Wut ist nicht alles – Empörung auch nicht…

Straßengrafitti am Tahrir-Platz, Kairo: „Nieder mit dem Regime!“ (Foto: Rowan El Shimi (flickr))

Seit fast zwei Jahren protestieren – immer weniger – Menschen in Deutschland unter dem Motto „Wir zahlen nicht für Eure Krise.“ Gezahlt wurde dennoch: Als Mensch mit Job durch Lohnverzicht und Arbeitsverdichtung, als SteuerzahlerIn für Kurzarbeit und Abwrackprämie, als KonsumentIn für Preiserhöhungen und Zuzahlungen beim Arzt. Alles in der Hoffnung, den Arbeitsplatz zu erhalten oder einfach unfreiwillig. Denn die Angst um den Lohnarbeitsplatz als angeblich alternativloses Mittel zur Existenzsicherung ist weit verbreitet. Eine vielfach verdrängte Angst, denn nicht nur Banken und Konzerne, auch Lohnabhängige hoffen im verschärften Verdrängungswettbewerb, zu den Gewinnern der Krise zu zählen. Alle überschlagen sich im Reparaturbetrieb (und viele Linke im Humanisierungsbetrieb) des Kapitalismus, obwohl dieser gerade deswegen wunderbar funktioniert: Für die Reichen.

Es gibt hier nichts zu erhoffen, keine Belohnung nach den Entbehrungen: Jobwunder nur als befristeter Sklave, Aufschwung nur für das Kapital, nicht für die Lohntüte, denn die Schuldenkrise und die Sparzwänge dienen als erneuter Vorwand für Sozialabbau, gerade bei den Überflüssigen und Ausgestoßenen. Nun, wo die Schulden der Bankenrettung „verbieten“, dass die Verzichtsleistungen der gewerkschaftlich geschützten Stammbelegschaften belohnt werden, kommt Enttäuschung auf. Wir verzeichnen die höchste gemessene Arbeitsunzufriedenheit aller Zeiten – und dies, obwohl sich in psychologischer Hinsicht kaum jemand diese leisten kann. Dennoch regt sich kaum Widerstand, höchstens gegen drohenden Arbeitsplatzabbau.

Allerdings offensichtlich nur in Deutschland. In Ägypten, Tunesien, Libyen, Jemen, Griechenland, Spanien und nun Israel sowie England… im Mittelmeerraum und selbst in den USA kommt es seit Monaten zu politisch und sozial motivierten Unruhen. Wenn auch weniger ausgeprägt, vermehren sich in Portugal, Italien und Frankreich die Proteste v.a. junger Menschen.

Empörung worüber und wofür?

Was sich im arabischen und mediterranen Raum regt, ist eine auch für Linke vollständig neue Bewegung: Partei- und ideologiefrei, eher moralisch situativ – und doch hochpolitisch. Entstanden als Demokratiebewegung für Werte der Freiheit, Gerechtigkeit und Würde – wie unterschiedlich auch immer diese enttäuscht/verletzt wurden (Hunger, Despotie, Armut, Perspektivlosigkeit) – ging es immer auch um materielle Absicherung im Sinne der Freiheit von Existenzangst. Nicht nur die spanische Jugend sieht für ihre unter harten Wettbewerbsbedingungen erworbene Überqualifikation keine Zukunft, weil ihre Leistungsbereitschaft nicht belohnt wird.

Diese Enttäuschung schlägt sich nieder in weitgehender parlamentarischer Stimmverweigerung und Ablehnung aller StellvertreterInnen aus Parteien und Gewerkschaften. Das lässt hoffen, dass diese Bewegungen diesmal schwer parteiförmig zu kanalisieren sind. Doch dem selbstbewussten Einklagen bedingungsloser Rechte auf Wohnen, Gesundheit, Bildung, Kultur – aller öffentlichen Güter, wie sie z.B. im Manifest von „Democracia Real Ya“ gefordert werden – stehen mehrheitlich ein tiefer Glaube in demokratische Grundregeln und wahlpolitische Forderungen gegenüber.

Dennoch: Vor allem die spanische (und auch die griechische) Bewegung der „Empörten“ hat alles, was ein linkes Herz höher schlagen lässt: Jugendproteste, denen sich schnell auch Erwachsene – berufstätig wie erwerbslos – anschließen, die sich schnell und offenbar dauerhaft im ganzen Land ausbreiten, sich die öffentlichen Räume wieder aneignen sowie im Prozess des Protestes Verhaltens- und Umgangsformen üben (Selbstverwaltung und Basisdemokratie bis hin zur Selbstermächtigung), die in eine nichtkapitalistische Gesellschaft verweisen. Neben der Hoffnung auf Stabilität und Erfolg dieser Bewegung bleibt die Frage, warum sie sich nicht auf alle europäischen Länder ausweitet.

Modell Deutschland: Krisenfest?

Es sieht doch überall in Europa gleich aus: Erst zerstörte der ideelle Gesamtkapitalist alle Grundlagen für Sicherheit und Solidarität in der Arbeiterklasse – in den Anfängen des sog. Neoliberalismus, vermittelt durch schlanke Produktion und schlanken Staat, um sich nun brutalst der Überflüssigen, nicht Produktiven zu entledigen.

Ging es in den 1970er und 80er Jahren darum, aus der Verweigerung gegen das fordistische Fabrikregime flexible und individualisierte Verwertungsstrategien zu generieren, geht es nun darum, die nicht Flexiblen und nicht Verwertbaren komplett auszuschließen, ohne die Wettbewerbsbedingungen der verbleibenden „produktiven“ Klassenteile zu verbessern. Die dauerhafte und verfestigte Exklusion der Prekären aus der Arbeitsgesellschaft bedeutet mehr denn je auch die Exklusion aus der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Zum Druck und Zwang des sich verkleinernden und deregulierten Arbeitsmarktes kommen Druck und Zwang des Spardiktats im sozialen Bereich. Dass dabei Revolten zum Druckabbau mitgedacht wurden, zeigen die steigenden Ausgaben für die Aufrüstung im Inneren: Dafür ist – wie für die Banken – immer genug Geld da.

Allen täglichen Erfahrungen zum Trotz sitzt verdammt verfestigt in den Köpfen, dass jedeR selbst schuld an seinem Misserfolg sei. Zu schön war die überall und dauernd auf uns einschlagende Botschaft des flexiblen Kapitalismus: JedeR hat eine Chance! Eine solche Chance aufzugeben fällt schwer, zumal (noch) ohne dringenden, drastischen Grund und ohne realistische Alternativen.

In der Krise kam es zu einer Wiederauferstehung der traditionellen, sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftspolitik. IG Metall wie DGB rühmen sich, mit ihren Ideen von Kurzarbeit und Abwrackprämie die Folgen der Krise gemildert und zum Wirtschaftswunder Deutschland beigetragen zu haben. (Deutsche) Jobs retten durch Protektionismus, durch Binnennachfrage – trotz Lohnsenkung – die Liste ließe sich lange fortsetzen. Die bewusste Entscheidung wird zwischen der „Rettung“ der immer weniger zur Existenzsicherung ausreichenden Jobs (hier) und der Lebensqualität der lohnabhängigen Menschen (überall) getroffen. „Unsere Jobs“ zu Lasten wessen Jobs? So umgesetzt stärkt die Finanzkrise das Kapital und schwächt die Arbeiterbewegung.

Die Kosten der Krise trugen entsprechend v.a. LeiharbeiterInnen und sonstige sog. „atypische“ Lohnabhängige und nur hier ist der angebliche Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen. Für alle anderen zeigt sich die Krise „lediglich“ als eine Verschärfung der ständigen Krise im kapitalistischen, lohnabhängigen Alltag, in dem jedeR hofft, sich irgendwie durchwursteln zu können. Durch diese Hoffnung haben auch viele Linke die Politik der Gewerkschaftsapparate mitgetragen: Die Milderung schlimmster Auswüchse (auf Steuerkosten) sowie Appelle an Moral und Dankbarkeit von Kapital und Staat und schließlich die (zähneknirschende) Akzeptanz der angeblichen Sachzwänge.

Empören, aber richtig!

Dass die Finanzkrise einen weiteren Vorwand zu Lohnsenkung und Sozialabbau liefert, war absehbar. Nicht absehbar war, wie reibungslos der Internationale Währungsfonds (IWF), die Europäische Zentralbank (EZB) und die EU ihre Krise als Disziplinierungsinstrument benutzen werden, um Staaten, Länder und Kommunen zu weiteren „alternativlosen“ Privatisierungen, Flexibilisierungen des Arbeitsmarktes und Ausgabensenkungen im öffentlichen und sozialen Bereich zu bewegen. „Blut und Tränen“ (Berlusconi) kommen nicht nur auf Italien zu. Sie sind europäisches Programm! Dies wird von der deutschen Regierung maßgeblich diktiert und richtet sich auch gegen die Lohnabhängigen hier.

Die Unverschämtheit, mit der die Rettungspakete durchgesetzt und die Sparmassnahmen brutal durchgezogen werden, steht im Einklang mit dem seit über zehn Jahren erfolgreichen Selbstbewusstsein der Herrschenden, uns noch nicht mal belügen zu müssen. Zusammen mit der Abgeklärtheit, mit der auf bisher jeden Protest mit Grundrechtsverschärfungen geantwortet wurde, entsteht der Eindruck, dass die Proteste im gewissen Rahmen von Vornherein in Kauf genommen wurden: Als Test für die Zumutbarkeit der repressiven Maßnahmen, als kurzfristiger Dampfablasser und nicht zuletzt als Grund für weitere Kontrollen und Repressionen.

Doch die Zumutbarkeit lebt von der Akzeptanz. Bei aller breiten Empörung über die Bankenrettung wurde sie als alternativlos hingenommen und die nun folgerichtigen Spardiktate erst recht als Sachzwang akzeptiert. Weiß doch jeder, der einen Haushalt führt, dass das Geld nur einmal ausgegeben werden kann. Zu gut hat die Propaganda gegriffen, die Staatshaushalte mit der schwäbischen Hausfrau gleichsetzt.

So kommt es, das nicht unsere Bedürfnisse und Rechte zum Sachzwang werden, sondern die diesen entgegen gesetzten Sparzwänge. Es wäre die Aufgabe der Linken, daran zu erinnern, dass die Menschen Güter und Infrastruktur brauchen, weder Geld noch Lohnarbeit noch eine „Realwirtschaft“, die sich um diese Bedürfnisse nicht kümmert und keine Produktionsweise, die diesen Bedürfnissen entgegensteht. Unsere solidarischen Bedürfnisse sind unser Sachzwang. Da eine Revolution, die der Verelendung bedarf, keine emanzipatorische sein kann, heißt unser Sachzwang internationaler Widerstand und politische Streiks gegen den Zwang zur Verelendung.

Das erste Gebot für die international solidarische Linke in Deutschland – unabhängig von der hiesigen (Mobilisierungs)Lage – lautet daher, eine bedingungslose Streichung der Schulden der Krisenländer der EU zu fordern und damit dem Zwang zu Sparmaßnahmen den Boden zu entziehen. Warum wir? Weil diese Schulden einerseits dem europäischen Lohndumper und Exportmeister Deutschland zu „verdanken“ sind und weil Deutschland (nicht nur deutsche Banken) von den Schulden profitiert.

Kapitalismus und Repression leben nicht nur vom Akzeptieren, auch vom Mitmachen. „Wir sind keine Systemfeinde, das System ist feindlich uns gegenüber“, steht auf einem der Plakate in Madrid. Während die Proteste in Großbritannien aktuell als Plünderungen und Randale entpolitisiert werden, tut die spanische Jugend das scheinbar selbst. Denn die Empörung basiert auf enttäuschten Hoffnungen und verletztem Gerechtigkeitsempfinden. Dem kapitalistischen Versprechen wurde geglaubt. Und: Um welche Gerechtigkeit geht es? Leistungsgerechtigkeit? Die gibt es im Kapitalismus nicht. Der Glaube an Leistungsgerechtigkeit hat bereits den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze gespalten.

Enttäuschte Hoffnung auf Gerechtigkeit im Kapitalismus wäre auch für (zu erhoffende) Proteste in Deutschland eine eher ausbremsende, realpolitisch kanalisierbare Perspektive. Sie lässt sich nur umgehen, wenn Linke über ihre Propagierung eines ideologischen Antikapitalismus hinaus endlich damit aufhören auch ihren kapitalistischen Alltag stillschweigend als notwendigen „Sachzwang“ zu akzeptieren. Eine Linke, für die sich Antikapitalismus auf theoretische Kritik beschränkt, die in ihrem Alltagshandeln aber die kapitalistischen Verhältnisse wie selbstverständlich mitreproduziert, bietet keinen Ansatz für tatsächlich emanzipatorische Prozesse.

Die Macht des Kapitalismus über Produktion wie Konsum, die Ökonomisierung unserer Gefühle und Bedürfnisse, unserer Kommunikation und zwischenmenschlichen Beziehungen muss gebrochen werden, und zwar nicht nur auf den Plätzen, auch im Alltagshandeln. Jede noch so kleine Konformitäts- und Wettbewerbsverweigerung, jede geübte Solidarität mit den Schwachen und Unterdrückten – am besten natürlich kollektiv – kann zum ersten Schritt jenseits dieses inhumanen und ohne Akzeptanz und Mitmachen bankrotten Systems führen. Denn: „Eine Krise kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht, ist der Alltag.“ (Anton Pawlowitsch Tschechow)

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