„Kuchen“

Vor einiger Zeit entschied sich mein Boss, keine Partys mehr zu erlauben. Er sagte, das wäre „zu viel Ablenkung“ für die ArbeiterInnen. Da ich erst seit sechs Monaten hier arbeite, habe ich eine solche Party bisher noch gar nicht miterlebt.

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Auf dem Flur hängen dekorative Rahmen, damit die Firma nicht wie ein Friedhof oder eine Anstalt aussieht. Es sind handgemachte Collagen, Nahaufnahmen aller MitarbeiterInnen, die auf früheren „Ende-des-Jahres-Partys“ waren. Leute bleiben oft vor ihnen stehen, um sie anzuschauen und um über Ex-MitarbeiterInnen zu tratschen. Da ich ein Neuling bin, nehmen sie sich immer Zeit, um mir die Bilder zu erklären, wenn sie mich davor stehen sehen. Sie erklären mir, wie die KollegInnen heißen, wen sie besonders mögen und wen die ganze erweiterte Familie umfasst, die zu solchen Partys mitgekommen ist. Dann erzählen sie mir, wie betrunken sie an welchem Event waren, und darauf folgt immer eine witzige Anekdote. Sie scheinen diese Zusammenkünfte sehr zu vermissen. Angesichts der lächelnden Gesichter auf den Bildern kann ich erkennen, dass sich etwas verändert hat, seit der neue Chef den Laden übernommen hat. „Wir waren glücklich“, höre ich oft, „ich meine, wir hassten uns oft gegenseitig, aber letztlich war es eine Art Hass-Liebe. Wir hatten Spaß. Jetzt interessiert sich niemand für irgendwas, alles hat sich verändert.“ Das erzählte mir Maria in der Mittagspause vor ein paar Tagen, als Santiago, Javier und seine Frau am anderen Tisch saßen. Die generelle Haltung dem Management gegenüber ist offensichtlich feindselig. Ich höre Spott, direkte Beschimpfungen und permanentes Lästern, auf Spanisch natürlich – außer, wenn Leute vom Management anwesend sind, dann gibt es nur lächelnde Gesichter. Heute war der Geburtstag von Javier. Niemand wusste davon so richtig, und niemand hatte ihm irgendetwas mitgebracht. Als seine Frau seinen Geburtstag erwähnte, sagten wir peinlich berührt etwas wie: „Oh, ähh….Herzlichen…Glückwunsch!“

Ich schlug vor, zu feiern. Maria sagte, dass sie das früher gemacht hätten. Jemand hätte Kuchen gekauft, und alle hätten eine kleine Pause genommen, um „Happy Birthday“ zu singen. Aber auch das wäre nicht mehr erlaubt. „Wie bitte? Das ist lächerlich! Wir sollten ihm (dem Chef) sagen, dass wir einen Kuchen für Javi anschneiden wollen“, sagte ich. „Pff“, spottete Santiago, während er seinen Kopf schüttelte, „er lässt uns ja nicht mehr.“ Ich ließ den Zynismus einfach an mir abprallen und mischte mich wieder ein: „Buen provecho [guten Appetit], ihr alle!“, ging zurück in mein Büro und dachte: „Warum weiß niemand, dass Javi heute Geburtstag hat?“ Ich arbeite an einem Arbeitsplatz, wo viele Menschen miteinander verwandt sind. Wir sind ungefähr drei Generationen hier, deshalb arbeiten viele mit ihrer Schwester, ihrem Cousin, der Mutter oder dem Vater zusammen, und das über viele Jahre. Ich gehöre zu der kleinen Minderheit von Menschen, die hier arbeitet, ohne mit jemand anderem verwandt zu sein. Ich erwähne das, weil Javi ein Mitglied der größten Familie hier ist. Trotzdem schien niemand zu wissen, dass er Geburtstag hat. Ich ging schnell zurück in den Pausenraum und fragte, ob es irgendeinen Weg gäbe, an eine Liste mit den Geburtstagen zu kommen. Javi, der sonst für die Gehaltsabrechnung und Personalakten zuständig ist, schüttelte seinen Kopf. Nein, es sah so aus, als wenn er nicht helfen wollte. „Ok…“, sagte ich. „Du könntest rumgehen und alle fragen, ha ha ha“, lachte Maria laut. „Ha… Ok.“ Ich ging zurück in mein Büro.

„Alle fragen?“, dachte ich. „Ich kenne gar nicht alle. Ich kenne nur ein paar Leute näher, der Rest kennt mich so gut wie gar nicht. Wie sollte ich erklären, dass ich die Leute nach ihrem Geburtstag frage? Sie werden alle denken, dass ich herumschnüffle. Die draufgängerische Grafikerin aus der letzten Ecke, die immer herumschnüffelt.“ Vielleicht sollte ich bis morgen warten. Ich könnte nach Hause gehen und meine FreundInnen fragen, ob das eine gute Idee wäre, und mir ein paar Tipps holen. Meine Aktion könnte zu überstürzt sein, da mich die Leute bisher nicht kennen. Vielleicht ist es merkwürdig.„Ach, was soll’s“, sagte ich mir. Javiers Geburtstag ist heute, ich habe jetzt einen guten Grund, morgen hat niemand Geburtstag. Ich nahm einen benutzten Zettel und beschrieb die Rückseite mit zwei Spalten: Name und Geburtstag. Maria war wieder an ihrem Schreibtisch. Ich zeigte ihr den Zettel, und sie wusste sofort, worum es geht. Sie lachte und schrieb ihre Daten auf. Die Liste zeigte ich ein paar anderen Leuten und erklärte, dass Javi heute Geburtstag habe, und dass niemand das gewusst oder ihm etwas geschenkt habe. Wir sollten wenigstens gegenseitig unsere Geburtstage wissen. Ein Bogen, der Daten von ihnen verlangt, machte die Leute misstrauisch. Ich persönlich fühlte mich sehr unsicher in dem, was ich tat.„Aber wofür ist das?“, fragten sie mich. „Ähh… ich weiß nicht genau, vielleicht bringen wir das nächste Mal ein paar Kekse mit. Niemand hat irgendwas für Javi mitgebracht, weil wir nichts davon wussten.“ „Ja, das ist wirklich nicht richtig…. Weißt du, früher feierten wir Geburtstage und brachten auch Kuchen mit…“ „Ich weiß, ich weiß. Nächstes Mal werden wir was machen, auch wenn es nur etwas Kleines sein sollte“, antwortete ich. Nachdem sich ein paar Leute eingetragen hatten, sagte ich ihnen, dass sie die Liste weitergeben sollten. Ich dachte, das geht bestimmt in letzter Sekunde in die Hose. Ich holte mir Wasser, damit ich nicht die ganze Zeit dabei stehen würde, um zu sehen, ob Leute die Liste unterzeichnen. Ich ging ins Badezimmer, rief anschließend meine E-Mails ab und kam dann zurück.

Fast alle hatten unterschrieben, und noch besser: Sie waren von ihren Plätzen aufgestanden, unterhielten sich aufgeregt über frühere Geburtstagsfeiern und darüber, wann ihre Geburtstage waren, über witzige Geschichten und ihre Sternzeichen. Es war ein lebhafter Anblick. Ich brachte den Zettel zurück in das Büro, wo Javi und seine Frau arbeiteten, und als ich das Blatt Javis Frau gab, neigte sie sich mir entgegen und sprach mit leiser Stimme: „Sabes qué, weißt du was? Ich werde zum Chef gehen, um zu fragen, ob wir einen Kuchen für Javier haben können.“ Ich lehnte mich vor und sagte „Ja, super, wann?“„Jetzt gleich.“„Jetzt gleich? Du hast ihm einen Kuchen besorgt?“„Nein, ich besorge einen.“ „Was? Woher? Jetzt gleich?“ Ich fragte sie ein paar Mal. Ich dachte: „Wird sie wirklich ihre Arbeit unterbrechen, sich in ihr Auto setzen und hier wegfahren?“ „Ja, jetzt gleich. Ich fahre zum Laden und komme dann wieder.“ „Ok? Ok… Ja, klar, ja, sag mir, was er dazu sagt.“ Sie füllte den Zettel aus, und ich ging zurück in mein Büro, noch verwundert darüber, was gerade passiert war.Ungefähr eine Stunde später kam die Vertriebsleiterin, Javis Nichte, in mein Büro und sagte mir, dass ich in den Pausenraum kommen solle, weil wir einen Kuchen für Javi anschneiden würden. „Ok? Ok. Ok ja, ich bin sofort da. “Ich ging in Richtung Pausenraum, und die Menschen zwängten sich in das winzige Zimmer, leise lächelnd, mit aufgeregten Händen in ihren Hosentaschen. Auf dem Kuchen stand sogar sein Name.Javi kam als letzter, und ein Feliz Cumpleaños [Alles Gute zum Geburtstag] wurde angestimmt. Der Kuchen sah aufwendig und lecker aus. Hinterher lachten wir alle, redeten und machten Scherze im Pausenraum. Auf dem Weg zurück zu meinem Schreibtisch hängte ich die Liste an die Stempeluhr. Maria begleitete mich und sagte: „Das war toll… Ich bin froh, dass wir das gemacht haben. Auch wenn es niemand zugeben mag, alle mögen es, mal jemand Besonderes zu sein.“ Ich lachte leicht und sagte: „Du bist so kitschig.“ Ich griff lachend nach ihrem Arm. „Aber das ist wahr… So viel ist sicher.“

Das Mitgenommene

Die letzten sechs Monate waren eine entspannte Reise des Lernens über die Gegebenheiten vor Ort. Ich knüpfte neue Beziehungen mit KollegInnen, was mir schwerfällt, da ich isoliert im Hinterzimmer arbeite. Aber dieses Lernen war von unschätzbarem Wert für mein Organizing. Die wenigen Male, als wir über die Arbeit geredet hatten, lernte ich viel über die verschiedenen Missstände in unserem Job, wie die extrem ungleiche Bezahlung, fehlende Leistungen/Renten, unklare Verträge, Lohnraub und so weiter. Jedes Mal, wenn ich fragte, wie wir diese Missstände zum Positiven verändern könnten, bekam ich dieselbe zynische Antwort: „Dieser Arbeitsplatz wird sich nie verändern, du kannst nichts machen.“ Ich kann gar nicht genug unterstreichen, wie sehr Leute an diesen Begründungen festhängen.

Ich frage mich von Zeit zu Zeit: „Wie bekomme ich Menschen dazu, sich zu wehren, wenn sie so hoffnungslos, desillusioniert und klein gehalten werden? Was wäre ein Thema, für das es sich zu kämpfen lohnen würde? Was passiert, wenn wir kämpfen, um Vorteile zu bekommen? Was ist, wenn Menschen ihre noch ausstehenden Löhne ausgezahlt bekommen?“ Ich bringe diese Themen ab und zu ein, wenn ich denke, dass es passt, aber der Zynismus ist so hartnäckig, dass er erdrückend wird. Das immer und immer wieder zu hören, führt dazu, dass ich manchmal glaube, die Dinge vielleicht wirklich nicht ändern zu können. Aber dann kam die Sache mit dem Kuchen, und die führte dazu, dass ich die Dinge ein bisschen anders sehe. Obwohl es kein großer Kampf war, war er ein Beispiel einer Aktion an einem Ort, an dem lange Zeit nichts besonderes passiert war. Wenn ich das genauer betrachte, musste ich mich nur leicht ins Handgemenge begeben und ein bisschen Smalltalk über Sachen führen, die nichts mit der Arbeit direkt zu tun haben, um Menschen zu erreichen, mit denen ich sonst keinen Kontakt habe. Wir erreichten eine Unterbrechung der Arbeit für mindestens eine halbe Stunde, und Menschen können sich daran erinnern, wie es war. Sie haben sich daran gewöhnt, und jetzt feiern wir einfach, weil es alle wollen. Das brachte mich dazu, kreativer zu denken, wenn ich mich an meinem Arbeitsplatz organisiere. Ich stellte fest, dass Widerstand nicht notwendigerweise in typische Schablonen passen muss, wie Kämpfe um höhere Löhne oder um Krankenversicherung. Widerstand kann auch von Dingen ausgelöst werden, die unsere politische Linie als OrganizerInnen nicht vorgibt. Vielleicht erscheinen diese Kämpfe im Moment zu winzig oder unbedeutend, aber an Orten, an denen Menschen ihre grundlegenden Beziehungen verloren haben, klingen große Kämpfe unangemessen oder unmöglich. Ich habe das Gefühl, dass ich zu sehr nach Chancen Ausschau hielt, nach Kämpfen, von denen ich gehört und vorher gelesen hatte, so dass ich die grundlegenden Beschwerden, die mir mitgeteilt wurden, übersah. Als ich mit den anderen im Pausenraum saß und sah, wie alle miteinander redeten und lachten, war das ein Beweis dafür, dass soziale Bindungen das Rückgrat von Arbeitsplatz-Gemeinschaften sind. Ohne diese intensiven Beziehungen ist Widerstand nicht möglich. Diese gemeinschaftlichen Veranstaltungen produzieren Erfahrungen, die die Arbeit annehmbar machen. Das sind die Momente, auf die sich Menschen freuen, auch wenn die Aktion keine große Sache war. Sie sind ein Zeichen dafür, dass Menschen sich bereit fühlen, gemeinsam gegen die Aussage des Chefs vozugehen, dass ArbeiterInnen „zu sehr abgelenkt“ würden. Und es zeigt immerhin, dass ihnen die Beziehungen untereinander wichtiger sind als das Kommando der ChefInnen.

 

Autorin:

Monika Kostas lebt und arbeitet in Miami, Florida. Sie ist Mitglied der IWW und arbeitet ebenso daran, dass neue Projekte in Miami entstehen, die sich darauf konzentrieren, Geschichten von ArbeiterInnen zu verbreiten und soziale Beziehungen in ihrer Community herzustellen. Normalerweise erstellt sie Grafiken und Illustrationen für die Ortsgruppe der IWW in Miami und andere Organisationen der radikalen Linken.

 

Aus dem Englischen übersetzt von Mark Richter/IWW Frankfurt am Main und Levke Asyr, IWW Leipzig.

 

Post AG versucht Streiks zu unterlaufen

Während sich in den letzten Wochen mehr als 32.000 Beschäftigte der Deutschen Post AG im Ausstand befanden, zeigte das Unternehmen eine ungeahnte Kreativität bei dem Versuch, die Streiks zu unterlaufen. So versucht die Post nicht nur, Beamte, StudentInnen und sogar „Freiwillige“ als Streikbrecher einzusetzen – in Frankfurt soll die Post nach Auskunft von Ver.di Taxis nutzen, um die liegengebliebenen Pakete und Briefe zuzustellen, auch lasse sie VerwaltungsmitarbeiterInnen in leeren Paketautos durch die Straßen fahren, um eine Zustellung vorzutäuschen. In einigen Orten würden Pakete bei Privatpersonen abgegeben, die diese dann für 50 Cent pro Zustellung ausgeben sollen. Vor dem Arbeitsgericht Bonn stellte Ver.di erneut einen Antrag auf einstweilige Verfügung gegen den Einsatz von Beamten auf bestreikten Arbeitsplätzen. Das Land Niedersachsen hat unterdessen die Paketzustellung an Sonntagen für unrechtmäßig erklärt und die Gewerbeaufsichtsämter angewiesen, diese zu unterbinden.

 

Amazon: Klage gegen Befristung gescheitert – Streiks gehen weiter

Die Klage vierer ehemaliger Amazon-Mitarbeiter – darunter zwei ehemalige Betriebsräte – auf Weiterbeschäftigung vor dem Arbeitsgericht Brandenburg wurde abgewiesen. Die vier waren zusammen mit ca. 900 weiteren KollegInnen am Standort Brieselang nach bis zu 1,5 Jahren befristeter Beschäftigung entlassen worden, obwohl im gleichen Zeitraum Neueinstellungen stattfanden.An anderen Standorten gehen die Streiks derweil weiter. Zuletzt legten die Beschäftigten in NRW, Hessen, Bayern und Sachsen die Arbeit nieder. Sprecher von Amazon glaubten zuvor eine abnehmende Streikbereitschaft feststellen zu können.

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