„Das wollt ihr gar nicht wissen…“

„Wo seid ihr geboren?“

„Ich im Krankenhaus und Barrio am Rande einer Müllkippe.“ Emilio nickte. „Was steht in der Geburtsurkunde? Ihr wisst, wie ich es meine.“ Der Anwalt wirkte gereizt. Beide mussten grinsen. „Ach, entschuldigt, ihr habt ja keine.“ Im Ton schwang etwas Ungreifbares mit. Sofort trugen sie Masken. Schimmerte Verunsicherung durch, in der zu langen Stille?

„Ich wurde im Hafenkrankenhaus geboren. Natürlich unter richtigem Namen. Cantona ist mein Spitzname, und Barrio…“

„Emilio?“

„Ja, aber alle nennen ihn Barrio. Er liegt nachts oft wach und redet von früher, wo er trotz Schießereien gut schlief.“ Cantona zeigte seinem Freund mit den Fingern ein Symbol, das der verstand, nachmachte, nickte, um gleich darauf so zu tun, als wenn er schlafe, dann lächelnd aufwachte.

„Ist gut. Erzählt mal.“

Beide hatten für «Manneskraft», eine Leiharbeitsfirma, gearbeitet. Fünf Arbeitstage je neun Stunden. Sie mussten Holz spalten und stapeln. Beseitigen der Sturmschäden des Orkans einige Tage vorher.

„Ja, ich weiß. Hier hat‘s das Dach abgedeckt.“ Nein, sie bekamen keinen Vertrag. Morgens um sechs Uhr dreißig war Treffen an der Tankstelle Richtung Autobahn. Mit Arbeitern des Auftraggebers ging es zu den Forstwegen. Die vier zersägten umgefallene Bäume, während Emilio und Cantona diese Stücke spalteten oder stapelten. Seitdem der Vorarbeiter am Montagmorgen ihnen ihre Arbeit erklärt hatte, wurde kaum noch miteinander geredet. Täglich wuchs die Entfernung zur „Sägegruppe“ Darüber schimpfte der Chef jeden Abend. Wegen Faulheit wollte er den Lohn kürzen. Zwei zerbrochene Axtstiele brachten weiteren Ärger. Den ersten am Mittwoch zog der Chef vom Lohn ab. Beim zweiten kündigte er. Jetzt drohten «Manneskraft» und Auftraggeber mit der Polizei, wenn sie den ausstehenden Lohn einforderten.

„Habt ihr Beweise?“ Cantona zeigte die Hände. Emilio tat es ihm gleich.

„Ärztlich attestiert?“ Als Cantona übersetzt hatte, unterdrückte der Freund sein Lachen. „Barrio sagt, er ist gesund. Wir kennen die Namen der Kollegen. Dem einen, Rudi, ist das Dach weggeflogen. Seine Frau kümmert sich um die Versicherung. Olli ist Bayern-Fan. Wegen des Sturms musste doch das Spiel abgesagt werden. Er regte sich die ganze Woche auf, weil dadurch Bremen Tabellenführer wurde.“

„Markus…“, warf Barrio ein.

„Ach, ja. Ihm ist die Freundin abgehauen. Vom Winde verweht, sagt Olli.“

„Gut, das reicht fürs Erste.“ Der Anwalt fragte nach Fahrtzeiten und vereinbartem Stundenlohn. Sein Blatt war voller Notizen: „Ich werde den Auftraggeber und die Leiharbeitsfirma anrufen. Vielleicht reicht es schon. Sonst müssen wir zum Arbeitsgericht. Falls eine Verhandlung nötig ist, brauche ich weitere Details.“

„Welche Chance haben wir?“

„Das willst du nicht wissen.“ Emilio guckte Barrio an. Sein Daumen zeigte nach unten.

„Ich kann euch unter der Telefonnummer erreichen?“

„Nein, aber Mischa, und sie verständigt uns. Von ihr ist auch die E-Mail-Adresse.“ Der Anwalt nickte.

„Gut.“ Er stand auf. „Ich melde mich.“

Obwohl Cantona hier geboren war, wurden er und seine Familie abgeschoben. Fremd wirkte das Land der Eltern. Alles blieb unverbindlich. Morgen hieß nicht der nächste Tag, sondern das erste Kapitel einer Utopie. Cantona kehrte zurück. Heimlich, unter falschem Namen. Wenn Geld da war, schlief er neben anderen in einem kleinen Zimmer. Dort traf ihn Emilio, der vor zwei Jahren mit dem Schiff gekommen und geblieben war. Durch den neuen Freund lernte er Mischa kennen. Sie arbeitete für das Flüchtlingskomitee. Beide hofften, eines Tages genug Geld zu verdienen, dass Mischa etwas davon an ihre Familien schicken konnte.

„Bekommen wir unseren Lohn?“

„Nein. Sie bestreiten eure Forderung.“ Wieder zeigte der Daumen nach unten. Barrio nickte.

„Was haben sie gesagt?“

„Das wollt ihr gar nicht wissen… Gut. Ich habe Fragen vorbereitet. Es wäre hilfreich, wenn ihr ausführlich antwortet. Lesbar, möglichst als Computerausdruck. Geht das?“ Cantona übersetzte für seinen Freund. Der zuckte mit den Schultern, nickte zustimmend. „Bringt mir die Antworten möglichst bald. Vor dem Gerichtstermin sehen wir uns noch.“

Es waren viele Fragen. Mehrere Abende saß Cantona am Computer, während Emilio nervte, scherzte, flirtete, kochte und endlich schlief. Anschließende Fehlerkorrektur dauerte fast genauso lange. Dem Anwalt reichten die Antworten nicht. Seine Gehilfin brauchte zwei Termine zum Überarbeiten. Stunden vergingen im Café. Spät am Nachmittag kam Mischa.

„Ihr sollt morgen anrufen. Ist es okay, wenn ich einen Bekannten informiere. Er ist Gewerkschafter und kennt vielleicht Wege…“ Hohle Worte. Emilio und Cantona vermieden, sich anzuschauen, ließen die Köpfe hängen. Trotz besseren Wissens hatten sie gehofft. „Ich lade euch ein. Was wollt ihr?“ Mühsam lächelte Cantona:

„Gesicherten Aufenthalt, Arbeit, Respekt und Gerechtigkeit. Ungefähr in der Reihenfolge.“ Unbeirrt wiederholte Mischa ihre Frage.

„Warten Sie einen Moment. Die Polizei geht gerade.“ Flüsternd übersetzte Cantona. „Ich stelle durch.“ Hoffentlich reichte das Guthaben auf der Telefonkarte. Plötzlich schossen die Worte aus dem Hörer.

„Da vertrete ich vor Gericht zwei Mandanten und verliere. Wenig später brennt der beklagten Firma das Holzlager ab. Samt Verwaltungsgebäude. Fällt dir dazu etwas ein?“ Emilio folgte nickend der Übersetzung, die Augen wurden groß. Seine Hand legte sich auf den Mund.

„Danke für Ihre Hilfe. Wir verlassen besser die Stadt.“ Cantona atmete tief durch. „Habt ihr was damit zu tun?“

„Das wollen Sie gar nicht wissen.“

 

Anmerkungen

Hagen und Stefan Mozza: Als der Kellner schoss und andere Geschichten aus dem täglichen Sterben. Verlag Edition AV, Lich 2008, 90 S., EUR 10,80 ISBN 978-3-936049-91-6

 

Weitere Veröffentlichungen:
Abschiet. Roman, Verlag Edition AV, Lich 2005 (unter dem Pseudonym Stefan Mozza)

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