Auf die Straße statt vor die Glotze

Brennende Banken und Barrikaden, geplünderte Supermärkte, ausgebrannte Autowracks. Fünf Tage und Nächte in Folge waren Zehntausende auf den Straßen und tausende, vor allem junge Menschen, gingen mit unglaublicher Wut in die Straßenkämpfe mit den Sondereinsatztruppen der Polizei. Auslöser waren die Todesschüsse eines Polizeibeamten auf einen 15-jährigen Schüler im Szenestadtteil Exárchia in Athen, der als Hochburg der anarchistischen Bewegung gilt. Die Nachricht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, nur drei Stunden nach der Tat, die allgemein als Mord empfunden wird, waren Straßenschlachten in einem Dutzend griechischer Städte im Gange.

In einem Beileidschreiben an die Familie des Getöteten versprach Ministerpräsident Kóstas Karamanlís „schnelle, rückhaltlose Aufklärung“ und die „exemplarische Bestrafung“ der Schuldigen. Daran freilich glaubt in Griechenland niemand. Seit dem Ende der Diktatur wurden alle Polizisten, die Demonstranten erschossen oder verprügelt hatten, freigesprochen oder zu lächerlich niedrigen Strafen verurteilt.

Waren es in der ersten Nacht vor allem anarchistische und linksradikale Gruppen, die Banken, Ministerien und Polizeiwachen angriffen, brennende Barrikaden errichteten und die Auseinandersetzung mit den verhassten „Mörderbullen“ suchten, änderte sich dies im Laufe der nächsten Tage. Auch in Provinzstädten und auf abgelegenen Inseln wurden nun Polizeiwachen belagert, fanden Straßenkämpfe statt. Vor allem SchülerInnen und StudentInnen, aber auch Auszubildende, junge MigrantInnen, viele nicht organisierte sog. Normalos und diverse linke Gruppen und Parteien beteiligten sich an den Protesten. Schrieb die bürgerliche Presse zuerst von „den schlimmsten Krawallen seit Kaltésas’ Erschießung 1985“, war später von einem „Aufstand nie erlebten Ausmaßes“ und einer „Staatskrise“ zu lesen.

Der Zündstoff lag schon bereit

Um die Explosivität der derzeitigen Situation zu verstehen, muss man die Erschießung Aléxandros’ vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung zumindest der letzten zwei Jahrzehnte betrachten, die ihre Zuspitzung in der aktuellen politischen Lage und der ökonomischen Situation weiter Teile der Bevölkerung erfährt:

2003 hatte die konservative Néa Dimokratía die seit 1981 fast ununterbrochen regierende sozialdemokratische Pasok als Regierung abgelöst. Da diese durch und durch korrupt und von zahlreichen Skandalen geschwächt war, konnte die Néa Dimokratía erfolgreich ihren Wahlkampf gegen „das Establishment aus Pasok und Großindustriellen“ inszenieren. Mit dem Slogan „bescheiden und ehrfurchtsvoll“ charakterisierte Karamanlís in der Folge seine Regierung. Die Wirklichkeit sah anders aus:

Schon vor den Olympischen Spielen 2004 begann der Angriff auf lang erkämpfte bürgerliche Freiheiten und soziale Standards, begleitet von einer nicht abreißenden Kette von Regierungsskandalen. Zuletzt flog der Grundstücksdeal mehrerer Minister mit dem Abt des Klosters Vatopédi auf, einem der Klöster der christlich-orthodoxen Mönchsrepublik Athos. Marinehandelsminister Giórgos Voulgarákis und Regierungssprecher Theódoros Rousópoulos mussten zurücktreten. Voulgarákis hatte dafür gesorgt, dass seine Frau, sein Schwager und sein Schwiegervater an den illegalen Grundstücksgeschenken staatlicher Filetgrundstücke an das Kloster verdienten. Da ein Großteil der Bevölkerung christlichorthodox ist, war es für sie noch schockierender, auch Mönche als Immobi lienhändler und Betrüger erkennen zu müssen; gerade wenn zuvor reihenweise Minister als raffgierig oder korrupt überführt, Staatsbetriebe trotz schwarzer Zahlen verhökert und die Angestellten danach wegrationalisiert werden.

Zugleich leidet Griechenland an einer Teuerungsrate (4,7%), die in Europa ihresgleichen sucht; die Banken erhalten trotz Rekordgewinnen eine staatliche Stütze von 28 Mrd. Euro und erhöhen die Zinsen für Privat- und Geschäftskunden. Viele Griechen taumeln derzeit am Rande des wirtschaftlichen Ruins. Der Zündstoff liegt also seit langem bereit.

Was käme nach dem Sturz der Regierung?

Während die meisten ratlos vor dem Fernseher sitzen und sich einen Skandal nach dem anderen präsentieren lassen, geht die Jugend zum Angriff über. Obwohl die Straßenkämpfe langsam abflauen, verlagert sich der Protest nun auf ein anderes, für die herrschende politische Klasse Griechenlands nicht weniger gefährliches Terrain. Nach Angaben von Indymedia Athen wurden inzwischen über 600 Schulen und Hochschulfakultäten im ganzen Land besetzt und zu Aktionszentren erklärt, ebenso die Zentrale des Staatsgewerkschaftsverbandes GSEE. Gemeinsame Forderungen sind der „Rücktritt der Mörderregierung“ und eine Bildungsreform.

Was nach dem geforderten Rücktritt der Regierung kommen soll ist allerdings unklar, wirkliche Alternativen sind nicht in Sicht. Die Unterschiede zwischen der konservativen Regierung und der in Umfragen führenden sozialdemokratischen Opposition sind marginal. Die stalinistische KKE (momentan bei ca. 8%) ist reaktionär bis ins Mark. Sie bezeichnet die Angriffe der letzten Woche auf Banken und Symbole des Staates als „Werk von bezahlten Provokateuren“.

Nur Synaspismós, die mit 5% im Parlament vertretene „Allianz der radikalen Linken“, wittert Morgenluft. Der Partei werden hohe Zuwachsraten vorhergesagt, wohl vor allem, weil sie mit Aléxis Tzípras einen jungen, unverbrauchten, rhetorisch gewandten „Bewegungslinken“ zum Parteivorsitzenden wählte. Inhaltlich bewegt sich Synaspismós jedoch zwischen Grünen und der Linkspartei, also durchaus innerhalb des kapitalistischen Rahmens.

Dass die staatstragenden Gewerkschaftsdachverbände GSEE und ADEDY alles tun, um den Status Quo zu erhalten, bewies der Alibi- Generalstreik am 10.12. Schon die Drohung, den seit einem Monat angekündigten Streik gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitik bis zum Rücktritt der Regierung auszuweiten, hätte Karamanlís den Todesstoß versetzt. Stürzen wird sie aller Voraussicht nach trotzdem in den nächsten Monaten. Dann stehen Neuwahlen an und alles soll „geordnet“ im demokratischparlamentarischen Rahmen ablaufen.

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