Fleischwerdung einer Ideologie

„Entschuldigung, haben Sie einen Augenblick Zeit für uns?“ Freundlich geht der junge Herr im legeren Anzug auf die Menschen zu, die er sich aus der Menge herauspickt. „Sehr gerne“, „Na klar“ – natürlich schlägt niemand diese Bitte aus, denn eines gehört an diesem Ort zu den informellen Spielregeln: Die Männer und Frauen in den Anzügen samt angehefteter Firmenlogos geben Ton und Richtung an, hier auf der Kieler Station der Jobmesse Deutschland Tour. Alle übrigen Menschen durchlaufen diesen Ort lediglich als Zielobjekte der unterschiedlichen Personalstrategien, und als solche setzen sie auch dieses Mal eine interessierte Miene auf und nicken freundlich, wenn der vermeintliche Firmenvertreter, mit zwei in Arbeitskleidung gehüllten und unterwürfig dreinblickenden Menschen im Gefolge, zu ihnen spricht.

Dass es sich um eine Protestaktion lokaler Anarchosyndikalisten handelt, wird den Angesprochenen erst zum Ende der Unterhaltung offenbart. Konzept der Aktion ist es, den Schein zu durchbrechen, dass die Menschen, die die Jobmesse besuchen, sich frei den angenehmsten Beruf auswählende Kundinnen und Kunden seien. Die unerkannten Aktivisten machen vielmehr diejenigen, die hier zwischen den Ständen umher trotten, selbst als die Ware aus, die die Betreiber der Messe den eigentlichen Kunden anbieten – und zwar den teilnehmenden Firmen, sowie der Bundeswehr und der Polizei. Dass diese Sichtweise nicht unbegründet ist, wird schon dadurch deutlich, dass es sich bei der Mehrzahl der Firmen um Zeit- und Leiharbeitsfirmen handelt, also um solche, die auf dem freien Markt nur eins verkaufen: die Arbeitskraft ihrer Angestellten.

Den arbeitspolitischen Diskurs über Leiharbeit auf den Punkt bringen

Als eine solche treten auch der junge Herr im Anzug und die als seine Angestellten ausgegebenen, ihm auf Fuß und Tritt folgenden Männer auf. Auf den Buttons an den Kleidern der Drei rangt der Firmenname CSG. „Das bedeutet Clean Solutions Germany – schon etwas von uns gehört?“ Der sich als Sohn des Firmengründers und daher baldiger Inhaber des Unternehmens vorstellende junge Herr im Anzug kommt schnell zu seinem eigentlichen Anliegen. Der Inhalt dessen, was er sagen wird, sind die Eckpunkte der Ideologie, die Zeitund Leiharbeit, Niedriglohn, Zwangsmaßnahmen im Auftrag der Arbeitsämter, sowie die Streichung von Sozialleistung legitimiert. „Wir setzten mit unserem Konzept bei Ihnen selbst an.“ Denn CSG zeichne sich, so der Unternehmersohn, dadurch aus, dass ein positives Verhältnis zu Arbeit, Unternehmen, ja auch der Nation hergestellt werde. Er deutet auf einen der Mitgebrachten im Arbeitsanzug. „Auch Du kamst damals noch mit den absurdesten Lohnvorstellungen zu uns“. Gehorsam antwortet dieser: „Ja, damals dachte ich noch an einen Stundenlohn von 9,80 Euro. Doch dank CSG habe ich eingesehen, dass 4,20 Euro für einen wie mich – einen allein erziehenden Vater – vollkommen angemessen sind. Und mittlerweile, nach 2 Jahren, verdiene ich sogar schon 5 Euro die Stunde.“ Erreicht worden sei dies, fügt der Vorgesetztehinzu, durch den Workshop, den CSG allen Angestellten anbiete. Dieser sei sehr facettenreich – neben praktischem Training, wie etwa Putzkursen, würde vor allem auch die Nationalhymne eingeprobt, und allen Teilnehmenden würde verdeutlicht, warum gerade die deutsche Nation etwas Besonderes sei. Ihr nicht durch Sozialschmarotzertum auf der Tasche zu liegen, sondern sie durch Arbeit zu stützen, sei ein Wert, der an sich schon Bezahlung genug für jede Tätigkeit sei. Und auch der vorgestellte Angestellte bestätigt: „Seit ich für CSG arbeite, kann ich meinem Sohn wieder in die Augen schauen.“

Nun stellt der künftige Erbe des Unternehmens den immer noch zuhörenden Besuchern und Besucherinnen der Jobmesse den zweiten mitgebrachten Angestellten vor. Perspektivlos sei dieser gewesen, vollkommen auf der schiefen Bahn. „Ich habe die Schule abgebrochen, “werden diese Ausführungen bestätigt, „eine lange Arbeitslosigkeit folgte. Ich war depressiv, nahm Drogen.“ Doch als er nach intensivem Coaching durch CSG bereit war, nicht bloß für unternehmensverträgliche Stundenlöhne und Arbeitsverträge zu arbeiten, sondern flexibel genug wurde, auch über Nacht Aufträge in jeder Region des Landes anzunehmen, da hätte er begriffen, dass auch einer wie er der Gesellschaft einen Dienst leisten könne.

Die totale Verinnerlichung der kapitalistischen Leistungsethik

So ungewohnt diese Äußerungen in dieser Form auf der Jobmesse auch gewesen sein mochten – am Ende sind es die Aktivisten selber, die sich einige Überraschungen eingestehen müssen. Denn statt Empörung und Wut gegenüber solch einem offen dreisten Unternehmenskonzept ernten die Schauspielenden in den meisten Fällen entweder teilnahmsloses Abnicken ihrer Ausführungen- oder sogar Zustimmung. Eine junge Frau bringt die Ideologie, deren Kritik sich die Kieler Anarchosyndikalisten verschrieben haben, sogar noch präziser zum Ausdruck: „Für mich sind Soziales und Patriotismus ohnehin das Selbe.“

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