Die Vermessung der Arbeitswelt

Banner für den Achtstundentag, Melbourne, 1856: „Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit und Erholung, acht Stunden Schlaf“

Die Aktionen der Arbeiterbewegung im ausgehenden 19. Jahrhundert für einen Acht-Stunden-Tag sind die Geburtsstunde des Ersten Mai, wie wir ihn kennen: als berüchtigten Kampftag der ArbeiterInnen. Wie viel Zeit die ArbeiterInnen dem Kapitalismus opfern müssen – darum ging es häufig in der Geschichte der Arbeiterkämpfe. Auch die Klassenkämpfe im bestehenden Kapitalismus sind in der Regel Auseinandersetzungen um Lohn oder um Zeit. Im Wesentlichen sind beide Formen Ausdruck desselben Interessenkonflikts, wenn auch jeweils unter verschiedenen Prämissen: Lohnkämpfe sind meist nur dann erfolgversprechend – und werden daher in organisierter Form oft nur dann geführt –, wenn es einen wirtschaftlichen Aufschwung gibt und die Preise gleichzeitig steigen. Kämpfe um Zeit – Neuregelung der Arbeitszeiten anstelle der Löhne – scheinen dagegen einfacher geführt werden zu können. Sie sind in vielen Variationen möglich, auch individuell oder in kleineren Zusammenhängen.

„Zeit ist der Raum zur menschlichen Entwicklung. Ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit – abgesehen von rein physischer Unterbrechung durch Schlaf, Mahlzeiten usw. – von seiner Arbeit für den Kapitalisten verschlungen wird, ist weniger als ein Lasttier“.[1] Was Karl Marx hier einfordert, ist Freizeit zur Entwicklung des Proletariers über die Reproduktion hinaus. Das Sprichwort „Zeit ist Geld“ trifft für die Seite des Kapitals vollkommen zu. Deshalb führt es die Kämpfe um Zeit erbittert und kleinlich: um jede Minute, die ihm vertraglich die Arbeitskraft zusteht, wie auch darüber hinaus. Wen wundert’s, ist doch die Arbeitszeit die einzige Konstante, die sich im Wert aller produzierten Waren wiederfindet: „Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeitszeit“.[2] Das heißt: Der Wert einer Ware wird nach der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit bemessen. Möglichst viel der gesamten verfügbaren Zeit der ArbeiterInnen ökonomisch nutzbar zu machen, ist zentral für den Klassenkampf von oben.

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Für ArbeiterInnen ist nur die Arbeitszeit Geld. Reproduktionszeit und darüber hinausgehende Freizeit ist uns mehr als das. Zeit ist plötzlich unterteilt in die eigene Zeit und die des Unternehmers; und „der auf Geld reduzierte Wert der Zeit wird vorherrschend“.[3] Gerade in Rezessionszeiten geht es oftmals nur um das Mehr an Zeit für die ArbeiterInnen, etwa die „gerechte“ Verteilung der Lohnarbeit zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen. Aber im Idealfall ist auch die Forderung nach mehr Freizeit an Lohnforderungen gekoppelt.

Die Enteignung der Zeit

E.P. Thompson hat dargestellt, welch gewalttätiger Kraftaufwand seitens des Kapitals in der Geschichte nötig war, um eine funktionierende Arbeitsdisziplin herzustellen, ArbeiterInnen also dazu zu bringen, pünktlich zu kommen, nicht zu früh zu gehen, den geläufigen Blauen Montag nicht zu begehen usw. Der Kampf um Zeit äußerte sich hierbei als Kampf gegen christliche Feiertage (und ihr weniger christliches Begehen) sowie in der Einführung der Uhr als Massenprodukt. Die Basisinnovation „Eisenbahn“ ist auch unter diesem Aspekt zu betrachten: „Eisenbahnen sind die großen Erzieher und Beaufsichtiger des Volkes, was das Einlernen und Einhalten der genauen Uhrzeit angeht“[4] stellte der US-amerikanische Politiker William F. Allen 1883 fest.

Die Zeit, die für Arbeit, und die Zeit, die für das Leben investiert wurde, machte vor der Ära des Kapitalismus meist keinen Unterschied – es war auch nicht nötig, sie zu messen. Von einem marktwirtschaftlichen Standpunkt aus musste das als Verschwendung und Disziplinlosigkeit aufgefasst werden. Zahlreiche Sprichwörter tun den implementierten Kulturwandel kund: „Der frühe Vogel fängt den Wurm“, „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, „Zaudern ist der Dieb der Zeit“, bis hin zu dem moderneren „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“.

Der Uhr und der Pünktlichkeitslehrerin Eisenbahn folgten „Kontrollkarte, Aufseher, Denunzianten und Fabrikstrafen“, schließlich dann „Arbeitsteilung und Arbeitsüberwachung, Geldstrafen, Glocken- und Uhrzeichen, Geldanreize, Predigten und Erziehungsmaßnahmen, Abschaffung von Jahrmärkten und Volksbelustigungen“.[5] Dabei war es anfangs keineswegs gewünscht, dass ArbeiterInnen die Uhrzeit auch kennen. Denn die Uhren des Unternehmertums gingen schon immer etwas anders als die der ArbeiterInnen: Morgens gehen sie vor, abends gehen sie nach. Das ist keineswegs allegorisch zu verstehen. Thompson zitiert einen Arbeiter der 1830er Jahre: „So läutet die Glocke zum Weggehen zwei Minuten zu spät, aber zwei Minuten zu früh müssen die Arbeiter wieder da sein. Gewöhnlich waren die Uhren so eingerichtet, dass der Minutenzeiger, wenn er den Schwerpunkt überschritt, gleich drei Minuten fiel und ihnen statt 30 Minuten nur 27 ließ“.[6]

Während es in der Frühzeit des Kapitalismus beim Kampf um Zeit darum ging, die variable Zeitrechnung der SubsistenzarbeiterInnen – die sich z.B. an der See nach Ebbe und Flut richtete – durch die kapitalistische Zeitwahrnehmung zu ersetzen, können wir heute davon ausgehen, dass diese in der westlichen Welt vollkommen verinnerlicht wurde. „Der ersten Generation Fabrikarbeiter wurde die Bedeutung der Zeit von ihren Vorgesetzten eingebläut, die zweite Generation kämpfte in den Komitees der Zehn-Stunden-Bewegung für eine kürzere Arbeitszeit, die dritte kämpfte für Überstunden- und Feiertagszuschläge. Sie hatten die Kategorien ihrer Arbeitgeber akzeptiert und gelernt, innerhalb dieser Kategorien zurückzuschlagen“.[7] Seinerzeit wurde die Zeit ursprünglich akkumuliert und erst zu einem Gegenstand des Kapitalismus gemacht. Die Durchsetzung dieser Zeitdisziplin war eine durchaus gewaltsame.[8] Heute ist die Zeit integraler Bestandteil des Kapitalverhältnisses: „In der reifen kapitalistischen Gesellschaft muss die gesamte Zeit vollständig verbraucht, vermarktet, nützlich eingesetzt werden; es ist anstößig, wenn die Arbeitskräfte bloß ‚die Zeit verbringen’.“[9] Klassenkämpfe sind so ein Ringen um Zeit zwischen Kapital und lebendiger Arbeit.

Arbeitszeit: Weniger ist Mehr

Während Lohnkämpfe heute meist kollektiv und publik geführt werden – vorwiegend in Form von Tarifverhandlungen und legalen, tariflichen Streiks –, bleiben die Kämpfe um Zeit oft unsichtbar. Das war nicht immer so. Gerade der Erste Mai als Kampftag der ArbeiterInnen basiert aus einem Klassenkampf um Zeit von unten. Wie akut und für das Kapital und Bürgertum durchaus bedrohlich eine solche Arbeitszeitverkürzung war, wird durch die Weigerung der deutschen Sozialdemokratie deutlich, Aktionen zum Ersten Mai mitzutragen: Am 1. Mai 1890 sollte es nach Beschluss des Sozialistenkongresses von Paris 1889 zu einem Aktionstag kommen. Die gesetzten Ziele sollten jedoch nicht etwa durch einen Generalstreik, sondern letztlich durch Verhandlungen erreicht werden. Vor allem die deutsche Sozialdemokratie lehnte einen Generalstreik vehement ab. Die Resolution der SPD zum 1. Mai wurde jedoch als Aufruf zum Streik missverstanden. Dass die SPD-Funktionäre der entstehenden Dynamik dann entgegentraten, wurde ihnen von Basis und von den Gewerkschaften vielerorts übel genommen. Während nun die lokalistischen Gewerkschaften (später: FVDG) und die sozialdemokratische Opposition der „Jungen“ für den Generalstreik am 1. Mai eintraten, sammelte die SPD relativ erfolglos Unterschriften.

Die Drückebergerei der Sozialdemokraten ging noch weiter: Als 1891 von der Zweiten Internationale beschlossen wurde, am 1. Mai die Arbeit niederzulegen, verschob die SPD den Aktionstag in Deutschland stattdessen auf den ersten Sonntag im Monat. Mit immer wieder neuen Ausreden versuchte die SPD im Folgenden, Arbeitsniederlegungen am Ersten Mai zu verhindern: Die ökonomische Lage spräche dagegen, oder die „gegenwärtige Arbeitslage“. Dennoch fanden jedes Jahr Streiks statt. Die Streikenden hätten allerdings der finanziellen und organisatorischen Unterstützung der Gewerkschaften bedurft, denen waren sie aber – unter dem Eindruck der ausgegebenen Generallinien – ein Dorn im Auge. Letztlich lehnten diese, abgesehen von den lokalistischen und syndikalistischen Organisationen, auch 1914 offiziell den Generalstreik ab.[10]

In der jüngeren Geschichte finden wir als prominente Beispiele die Durchsetzung der sogenannten „Steinkühlerpause“ und den Kampf um die 35-Stunden-Woche. Die „Steinkühlerpause“, benannt nach dem damaligen IG-Metall-Verhandlungsführer Franz Steinkühler, legt seit 1973 eine zusätzliche Pause für AkkordarbeiterInnen im baden-württembergischen Flächentarifvertrag der IG Metall fest und konnte damals im Zuge des Streiks für den Lohnrahmentarif II durchgesetzt werden. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche wiederum, insbesondere ausgetragen von der IG Metall in den 1980er Jahren, erreichte seinen Höhepunkt 1984 mit dem Streik einer viertel Million Metall-ArbeiterInnen. Die Vorgeschichte setzt jedoch weit früher an: Seit 1955 wurde für den arbeitsfreien Samstag unter dem bekannten Motto „Samstag gehört Vati mir“ gekämpft. In den gewerkschaftslinken Debatten der 1970er Jahre wurde dann die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung aufgestellt. Die 35-Stunden-Woche erreichte die IG Metall erst 1995. Die „Steinkühlerpause“ wurde von den Unternehmern immer wieder in Frage gestellt[11] und die 35-Stunden-Woche stand stets und steht auch momentan auf wackeligen Füßen. Gewissermaßen wird dieses Konzept in der aktuellen Krise durch die Kurzarbeit ersetzt – was völlig fehlt, ist natürlich der „volle Lohnausgleich“. Zwar gilt dies vor allem in Branchen, die die Wirtschaftskrise besonders hart trifft, aber generell lässt sich feststellen, dass der gegenwärtige Trend zur Arbeitszeitreduzierung nicht bedeutet, alle weniger arbeiten zu lassen, sondern einige gar nicht und andere möglichst viel.

Im Gegensatz zu diesen prominenten Beispielen gelangt die alltägliche Widerständigkeit gegen das kapitalistische Zeitmanagement kaum in die Öffentlichkeit: Krankfeiern, Pausen überziehen, Streits um Pausenlängen und sogar das „unabsichtliche“ Verschlafen – ein im wahrsten Sinne unbewusste Form des Klassenkampfes.[12]

Vom Microchip zur neoliberalen Zeiterfassung

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Ganz im Gegensatz dazu die Kapitalseite: Hier wird sehr bewusst alles getan, um mindestens jede Minute der eingekauften Arbeitszeit „effektiv“ zu nutzen. Mittlerweile hat sich eine ganze Branche diesem Bedürfnis zugewendet. Karl Heinz Roth beschreibt in Die globale Krise den Mikrochip – neben dem Container – als Basisinnovation des vergangenen kapitalistischen Zyklus. Basisinnovationen kommt „die Kraft zu, das in der Krisenperiode angehäufte Sparkapital der streikenden Investoren und auf die Straße geworfenen Arbeitskräfte wieder einzusammeln und auf jene neuen und hochprofitablen Wirtschaftszweige zu lenken, aus denen neue Produkte hervorgehen“.[13] Der Mikrochip eröffnete aber als Innovation nicht nur das Zeitalter der Computertechnologie und damit entsprechender neuer Märkte, er ermöglichte auch ganz neue Arbeitszeitmessungen. Zum Beispiel wurden mit dem „Methods Time Measurement“ (MTM) „die elementaren Hand-, Finger- und Blickfunktionen durchschnittlich geübter Arbeiterinnen und Arbeiter entschlüsselt, mit ihren Körper- und Fußbewegungen korreliert und zu Grundbewegungen verdichtet, die innerhalb standardisierter Zeittakte – oftmals nur wenige Sekunden – zu absolvieren waren“.[14]

Ursprünglicher Sinn solcher Messungen war die Übertragung der Arbeitsschritte auf Computersysteme, um Roboter entsprechend programmieren zu können. Kollateraler Nutzen für das Kapital war aber auch, den ArbeiterInnen sekundengenau vorhalten zu können, wie lange ein bestimmter Arbeitsschritt exakt zu dauern hat. Das ist an sich schon problematisch genug. Seltsam wird diese Messmethode, die sich auf den gesamten Arbeitssektor ausgebreitet hat, aber vor allem dann, wenn sie auf geistige und humanitäre Tätigkeiten ausgeweitet wird. Die Zerlegung der Zeit in möglichst kleine Einheiten, die dann entsprechend genauestens geplant werden können, mag z.B. auch Studierenden bekannt vorkommen. „Modularisierung“ schimpft sich diese Einteilung im Bologna-Prozess. In der Bildung sind aber keineswegs nur Studierende von einer solchen Modularisierung betroffen. Dass die Planung und Erfüllung der Studienmodule für Bachelor- und Master-Studiengänge für DozentInnen ebenso belastend ist wie für Studierende, dürfte nicht überraschen; dass die Messbarkeit zunehmend auch den sogenannten „Unterbau“ (HausmeisterInnen, SekretärInnen, BibliothekarInnen usw.) betrifft, dagegen schon. Soweit nicht ersetzt durch Ein-Euro-JobberInnen (HausmeisterInnen) oder elektronische Systeme (BibliothekarInnen), wird von ihnen mittlerweile eine Arbeit ähnlich derjeniger solcher Systeme verlangt.

Regelrecht pervers gestaltet sich die Zeitbemessung im Bereich der Pflege. Das beginnt schon bei den „DRG“, dem neuen Zauberwort der Branche. Die „Diagnosis Related Groups“ sind seit 2004 als verpflichtendes Entgeldsystem in deutschen Krankenhäusern eingeführt. Anhand der Diagnose, der ein bestimmter Behandlungsaufwand zugerechnet wird, werden PatientInnen in ökonomisch gleich teure Gruppen sortiert, und diesen entsprechend zahlen die Krankenkassen. Getoppt wird dies nur noch von der „Modularisierung“ der Pflegearbeiten. Wie lange der Einkauf für eine betreute Person, die tägliche Dusche oder das Zubereiten einer Mahlzeit dauert, ist minutengenau geregelt – und keine Minute mehr wird von der Pflegeversicherung bezahlt. Überflüssig zu erwähnen, dass der Kostendruck über die ArbeiterInnen letztlich auf die Pflegefälle abgewälzt wird. Wurden auch hier „elementare Funktionen“ „durchschnittlicher“ ArbeiterInnen gemessen? Jedenfalls hat niemand die Entfernungen zum nächsten Supermarkt gemessen[15].

Complete Control

Exakte Messungen – das scheint der Kern der heutigen Akkumulation von Zeit im kapitalistischen Sinne zu sein. Und das war schon die fundamentale Idee des Taylorismus. „Mittels Zeit- und Ablaufstudien sollte das Arbeiterwissen in ein kodifiziertes Wissen verwandelt und dem Management zur Verfügung gestellt werden; den Lohnarbeitern sollte es nur noch in Form streng vorgeschriebener Zeit- und Bewegungsabläufe begegnen“.[16] Ein Beispiel dafür ist das Zeiterfassungssystem der Hamburger Firma D+S Europe mit dem bezeichnenden Namen „Intraday Complete Control“ (ICC): Die totale Kontrolle über die ArbeiterInnen ist das schon im Namen verdeutlichte Ziel. ICC wird z.B. von der Verlagsgruppe Bauer und den zehn hauseigenen Callcentern von D+S genutzt. Allerdings bei Weitem nicht widerstandslos. So befindet sich das System in Münster bereits zum zweiten Mal in einer Testphase, da der Betriebsrat von D+S Münster nach massivem Protest der ArbeiterInnen für die Unterbrechung des ersten Testlaufs gesorgt hat. Aktiver Widerstand gegen die komplette Kontrolle findet auch dadurch statt, dass z.B. Pausen einfach nicht eingetragen werden oder aber das Ausloggen nach Feierabend „vergessen“ wird. ICC ist fehleranfällig, da die ArbeiterInnen das System selbst bedienen müssen und damit phantasievoll umgehen können.

Während ICC die Arbeitszeit exakt erfassen will, ist das Programm bei der Freizeit nicht so pingelig: Sollte über die geplante Arbeitszeit hinaus gearbeitet werden, erfasst das System diese Zeit nicht mehr. Und das ist die Kehrseite der Medaille. Das Kapital will in der Tat nur die bezahlte Arbeitszeit exakt erfassen, um möglichst viel Mehrwert aus dieser zu schlagen. Aus genau demselben Grund wird die unbezahlte Freizeit – in der sich jedoch die ArbeiterInnen bitteschön auch mit Betriebsangelegenheiten befassen sollen (das sehen wir bei der FAU ja auch so, aber meinen das ganz anders) – eben nicht gemessen. „Dies scheint vor allem möglich durch die Mobilisierung betriebsgemeinschaftlicher Mentalitäten, die eine ständige Bereitschaft [also auch in der Freizeit] zur Selbstaktivierung hervorbringen“.[17] Detlef Hartmann beschreibt diese Seite des Prozesses so: „Die Unternehmen … bewerten subjektive Potenziale, die Fähigkeit und Bereitschaft, sich selbst vorbehaltlos zu unterwerfen, zu offenbaren, einzubringen, in Dienst zu stellen und sich selbst zu organisieren, zu rationalisieren, zu optimieren. Sich, das heißt: auch die Familien, die sozialen Beziehungen, das eigene Leben“.[18] Kurz: Mit allen möglichen Formen von Anreizen und Druck sollen die ArbeiterInnen dazu gebracht werden, die Reproduktionszeit und ihre darüber hinaus gehende Freizeit mehrwertschöpfend in den Dienst des Kapitals zu stellen. Beispielhaft lässt sich der ursprünglich links besetzte Begriff des „lebenslangen Lernens“ nennen, der neoliberal in eine lebenslange Pflicht zur beruflichen Weiterbildung im und neben dem Broterwerb uminterpretiert wurde.[19] Auch hier spielt die Basisinnovation Mikrochip unterschwellig die entscheidende Rolle: „Es liegt auf der Hand, dass der Griff in die subjektiven Ressourcen ohne die IT-Technologien überhaupt nicht möglich und gar nicht erst versucht worden wäre“.[20]

Hartmann sieht in diesen Prozessen der Selbstinwertsetzung den Versuch, aus der Krise des keynesianischen Modells seit den frühen 1970er Jahren zu entkommen.[21] In diesem Sinne ist anzunehmen, dass auch die gegenwärtige Transformation der proletarischen Mentalitäten einem Entkommen aus der aktuellen Krise dienen soll. Und dies weist womöglich darauf hin, dass der Kampf um Zeit in eine neue Phase tritt, indem das Kapital die Zeit über die reine Arbeitszeit hinaus akkumulieren will.

Die Module spielen verrückt

Immer noch geht es im Klassenkampf um Minuten und sogar Sekunden. Die durch das Bildschirmarbeitsplatzgesetz geregelten Bildschirmpausen etwa sind vielen Call-Centern immer noch ein Dorn im Auge. Die Frage, ob 30 Sekunden Pause zu einer Minute auf- oder abgerundet werden, ist hier durchaus arbeitskampfrelevant und beschäftigt ganze Arbeitsgerichte. Einige Unternehmen, z.B. der Osnabrücker Call-Center-Konzern buw, vermeiden diese Pausen dadurch, dass sie die Bildschirmarbeit durch andere Arbeiten (z.B. Briefe eintüten) unterbrechen – ungeachtet dessen, dass ein solcher Wechsel in den Arbeitsarten dann wesentlich länger sein sollte als die vier- bis siebenminütige Pause.

Der Kampf um Zeit geht aber wesentlich weiter. Er tangiert auch das Prinzip des „Forderns und Förderns“ unter Hartz IV, und zwar in dem Sinne, dass auch Erwerbslose nicht über ihre Zeit frei verfügen können sollen, des weiteren in der Frage um die Länge der Ausbildungszeit[22] oder in der Frage, ab wann man Rente erhält. Denn dem Kapital geht es darum, „die Gesamtheit der gesellschaftlichen Zeitordnungen der heteronomen Logik der Kapitalverwertung zu unterwerfen“.[23] Carlo Vercellone benennt Projektmanagement, Druck durch Kunden und Zwang durch Prekarität als Elemente der Durchsetzung dieser erneuerten kapitalistischen Zeitordnung. Seinen Schluss daraus werden viele aus eigener Erfahrung unterschreiben können: „Das Kapital versucht, gratis zu profitieren, indem es Löhne, die auch die … im offiziellen Arbeitsvertrag unerfasst bleibende Arbeitszeit berücksichtigen, verweigert“.[23] Detlef Hartmann folgert daraus, dass die aktuellen sozialen Auseinandersetzungen nur im Kontext solcher „Formen der Knechtung, ihre[r] sozialtechnische[n] Erneuerung und Verfeinerung“ zu verstehen sind. [24]

Anders gesagt: Der Kampf für unbezahlte Ausbildung und Bildung – sei es nun Kindergarten oder Hochschule –, der Kampf gegen eine Verkürzung der Rentenzeit, der Kampf für mehr Freizeit, das alles sind Elemente des Klassenkampfes. Die Bildungsproteste des Jahres 2009 sind dabei ebenso beachtenswert wie neue Kampfmethoden in bisher recht arbeitskampfarmen Branchen, wie etwa der „Scheißstreik“ im Bereich der persönlichen Assistenz.[25] Ebenso wie die Überziehung einer Pause, das Schwänzen eines Seminars genauso klassenkämpferische Elemente haben können wie ein Streik.

Oftmals finden diese Klassenkämpfe individualisiert statt. Dabei, und das ist eine zentrale Idee des Syndikalismus, hätten sie kollektiv mehr Chancen auf Erfolg. „[D]ie Menschen können arbeiten, wenn sie sich zusammentun & so können sie auch trödeln“, berichtete der Bauer Robert Loder über seine Untergebenen schon zwischen 1610 und 1620.[26] Das muss und soll nicht immer die soziale Revolution von jetzt auf gleich sein, der Kampf um die tägliche Verbesserung ist ebenso relevant:

„Wenn wir … die Wahl zu treffen haben zwischen acht Stunden Arbeitszeit und zehn Stunden Arbeit, … so entscheiden wir uns natürlich für die acht Stunden und den besten Lohn. Wohl wissen wir, dass damit an der Existenz der Lohnsklaverei nichts geändert wird, der wir auch weiterhin unterworfen sind. Aber wir haben unsere Entscheidung unter der Erwägung getroffen, dass zwei Stunden weniger Sklaverei … eine Errungenschaft sind, die kein vernünftiger Mensch zu unterschätzen weiß“.[27] Oder, wie es die FAU 80 Jahre später ausdrückte: Ob fünf Minuten mehr Pause oder Weltrevolution – Wir kriegen nur, wofür wir kämpfen!

Anmerkungen

[1] Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW Bd. 16, S. 144.

[2] Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 109.

[3] Vgl. Thompson, „Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus“, in Holloway & Thompson, Blauer Montag, S. 19-72.

[4] Caffentzis, George, „Der Marxismus nach dem Untergang des Goldes“, in: Van der Linden & Roth (Hg.), Über Marx hinaus, Berlin/Hamburg 2009, S. 467.

[5] Thompson, S. 52 u. 62.

[6] Ebd., S. 57.

[7] Ebd. Thompson merkt zudem an, dass „das Zeitgefühl der Mutter von kleinen Kindern […] unvollkommen [ist] und […] auf andere menschliche Gezeiten [achtet]. Sie hat sich bislang noch nicht vollständig aus den Konventionen der ‚vor-industriellen’ Gesellschaft herausbewegt“; S. 48.

[8] Vgl. Marx, MEW Bd. 23. S. 765.

[9] Thompson, S. 63.

[10] Siehe dazu: Halfbrodt, Achtstundentag und Erster Mai, Bielefeld 1997.

[11] 1996 wurde die „Steinkühlerpause“ auf die Fließbandarbeit beschränkt. 2004 sprachen die Arbeitgeber der Metall-Industrie von der „baden-württembergischen Krankheit“. Vgl. Beck, „1973 – Steinkühlerpause erstreikt“, www.labournet.de/diskussion/arbeitsalltag/az/steinkuehlerpause.html.

[12] Unter Widerständigkeit verstehe ich dabei keineswegs nur den bewussten Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung, sondern auch die Widerständigkeit, die das Kapitalverhältnis impliziert: Das Kapital muss sich immer mit lebendiger Arbeit ‘rumschlagen, die neu diszipliniert und zugerichtet werden muss.

[13] Roth, Die globale Krise, Hamburg 2009, S. 160. Den Begriff der „Basisinnovation“ entlehnt Roth von Kondratieff, „Die langen Wellen der Konjunktur“, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Nr. 3 (1926), S. 573-609.

[14] Roth, S. 164. Roth beschreibt die MTM als „Ermittlung so genannter Kleinstzeiten“.

[15] Und schon gar nicht, ob dies auch der billigste ist und wie viel Geld die betreute Person überhaupt hat. Richtig bizarr wird es dann, wenn die Fallmanagerin der ARGE den Einkauf bei Lidl oder Aldi empfiehlt, diese aber so weit weg sind, dass der Discounter für die Pflegekraft nicht in der vorgegebenen Zeit zu erreichen ist.

[16] Vercellone, Vom Massenarbeiter zur kognitiven Arbeit, in: Van der Linden & Roth, S. 530.

[17] Roth, S. 165.

[18] Hartmann, Revolutionäre Subjektivität, die Grenze des Kapitalismus, in: Van der Linden/Roth, S. 219. Zur Kritik am Ansatz Hartmanns vgl. die Buchbesprechung „Selbstunternehmerische Aktivierung“, in: Wildcat, Nr. 86 (Frühling 2010), S. 73-6.

[19] Vgl. dazu: Bildungssyndikat Münster, „Bildungspolitik vom Runden Tisch. Intelligentes Humankapitalmanagement zum Wohle aller“, Interhelpo, Nr. 10 (2001). Zu finden auf www.fau.org/ortsgruppen/muenster.

[20] Hartmann, S. 236.

[21] Vgl. ebd., S. 246.

[22] Z.B. durch die Einführung von Langzeitstudiengebühren. Die SPD brüstet sich im Wahlkampf nach wie vor gerne damit, Studiengebühren abschaffen zu wollen und vergisst dabei, dass sie sie in mehreren Bundesländern eingeführt hat. Die „Langzeitstudiengebühren“, also die sanktionierte Begrenzung der Ausbildungszeit, gelten – zumindest für die SPD – schon gar nicht mehr als Bezahlung für Bildung.

[23] Vercellone, S. 550.

[24] Hartmann, S. 250.

[25] Siehe die Homepage www.jenseits-des-helfersyndroms.de. Vom 27. April bis zum 27. Mai 2009 versendeten Beschäftigte aus der ambulanten Pflege und der persönlichen Assistenz Kotröhrchen an politisch und ökonomisch Verantwortliche. Siehe auch das Interview mit einem Aktivisten, in der Wildcat, Nr. 86 (Frühling 2010), S.50f.

[26] Thompson, S. 45.

[27] Rocker, Der Kampf ums tägliche Brot, Berlin 1924, S. 41.

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