Wer nichts hat, dem wird genommen

elterngeld_hartz_iv.jpgProletariat“ – das waren im Wortsinn des frühen 19. Jahrhunderts jene, die zu viele Kinder hatten. Die Theorie dazu lieferte der britische Ökonom Thomas Malthus. Nach Malthus ist es ausgemachte Sache, dass sich die Wirtschaft nicht entsprechend dem Bevölkerungswachstum entwickeln könne und zwangsweise eine Überschussbevölkerung entstehen müsse.

So was nimmt heute keiner mehr ernst? Weit gefehlt. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Daniel Bahr tönte 2005 in der Tagesschau: „In Deutschland kriegen die Falschen die Kinder. Es ist falsch, dass […] nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen.“ Bahr wollte den Kinderwunsch von AkademikerInnen fördern, man kann auch sagen: seiner eigenen Schicht Geld zuschustern. Bereits vor knapp zehn Jahren formulierte die damalige Familienministerin Renate Schmidt eine Formel, die Daniel Bahr u.a. nachbeteten: 1. Deutschland habe zu wenige AkademikerInnen, dieser Trend werde zunehmen. 2. PISA habe gezeigt, dass in Deutschland nur Akademikerkinder studieren. 3. Folglich müssten mehr Akademikerkinder geboren werden. Diese „Demografisierung sozialer Fragen“ unterschlägt politische Änderungsmöglichkeiten, z.B. eine Modernisierung des selektiven Bildungssystems. Mit dieser Logik profitiert die gutverdienende obere Mittelschicht doppelt: Die Privilegierung ihrer Kinder bleibt durch das sozial selektive Bildungssystem garantiert und sie erhalten durch das 2007 eingeführte Elterngeld ein Jahr lang monatlich 1.800 Euro, wo sie vorher nichts bekamen.

Man kann den „Falschen“ das Geld natürlich auch einfach wegnehmen. Das sieht die Bundesregierung in ihrem geplanten Sparpaket vor: 600 Millionen Euro will sie durch die Kürzung des Elterngelds einsparen. Zu 75 Prozent treffen diese Kürzungen jene, die offenbar falsch in diesem Land sind: Hartz IV-BezieherInnen ebenso wie Mini-JobberInnen. Mit ca. 300 Euro weniger soll eine alleinerziehende Mutter auskommen, wenn sie ALG II bezieht. 43 Prozent derjenigen, die von der zu Januar 2011 geplanten Streichung betroffen sind, sind allein erziehende Mütter mit ALG II-Bezug. Gut Verdienende dagegen werden dieses Geld als „Lohnausgleich“ weiterhin bekommen.

Die zynische Begründung aus dem Familienministerium kennen wir bereits aus ähnlichen Diskussionen: Weniger Geld motiviere die ALG II-BezieherInnen, intensiver nach Arbeit zu suchen. Das gar keine entsprechende Arbeit da ist, dass – wenn doch – diese so schlecht bezahlt sein wird, dass weiterhin ergänzendes ALG II notwendig ist, und dass dies wiederum bedeutet, dass das Elterngeld weiterhin nicht fließen wird, bleibt unerwähnt.

In der aktuellen Diskussion wird zudem unterschlagen, dass das Elterngeld als einkommensabhängige Ersatzleistung 2007 das sozialkompensatorische Erziehungsgeld ablöste. In den 1980er Jahren wurde das Erziehungsgeld eingeführt, um Kindern aus ärmeren Haushalten bessere Startbedingungen zu bieten; gutverdienende Familien erhielten keinen Zuschuss. Das Erziehungsgeld wurde zwei Jahre lang ausgezahlt.

Daniel Bahr ist nicht alleine geblieben. Thilo Sarrazin, sozialdemokratisches Mitglied des Vorstands der deutschen Bundesbank, äußerte in seinem berüchtigten Interview in der ‚lettre international’ „das Problem, dass vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“ – dieses müsse sich „auswachsen“. Sprich: Die sog. „Unterschicht“ solle aussterben. Der „Philosoph“ Peter Sloterdijk schloss sich an. Es geht hier keineswegs nur um einen Sparkurs in Krisenzeiten: Sarrazin, Sloterdijk u.a. haben deutlich gemacht, dass sie sich – ihre Nation und deren Wirtschaft – bedroht sehen. Am deutlichsten hat es der Soziologe und Ökonom Gunnar Heinsohn in der FAZ ausgedrückt: „die vom Sozialstaat unterstützte Unterschicht“ stelle „eine Bedrohung für die Wirtschaft, für den Sozialstaat, das Gemeinwesen insgesamt“ dar. Wieder einmal geht es um und gegen die „gefährlichen Klassen“. Es handelt sich um mehr als nur ein paar verstreute Äußerungen verwirrter Alt-AkademikerInnen. Wir haben es mit einer ausgemachten Hetzkampagne zu tun, die sich nicht nur in der sprachlichen Brandstiftung äußert, sondern die ganz materielle Auswirkungen haben wird.

Malthus zog seinerzeit das Fazit: „[…] wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen“. Familienministerin Kristina Schröder ist wohl der gleichen Meinung. Aber: Noch sind die Sparpläne nur ein Entwurf. Und der Protest gegen die Pläne ist breit.

Torsten Bewernitz, Andreas Kemper

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