Tarifvertrag von unten

Strengthshop – das ist ein kleiner Onlineversandhandel im Osten von Berlin, weit draußen im Industriegebiet. Regale voller Waren, die schwer und sperrig sind: Langhanteln mit massiven Gewichtsscheiben aus Stahl, sperrige Trainingsgeräte, bis zu 65 Kilo schwere Kugelhanteln. Die Beschäftigten kümmern sich um Kundenservice und Lagerlogistik, fahren Gabelstapler und verpacken die Sendungen, die in die ganze Welt verschickt werden.

Seit 2015 aber wird den Beschäftigten die Arbeit erleichtert durch einen Haustarifvertrag, den sie selbst als Betriebsgruppe mit der FAU erkämpft haben. Mit einem Schlag hat die Vereinbarung nicht nur die Einkommenssituation der Arbeiter verbessert, sondern ihnen auch wichtige Mitbestimmungsrechte verliehen.

Ein solcher Haustarifvertrag dürfte in Deutschland eine Premiere sein: Der Betriebsgruppe werden Mitspracherechte zu Kündigung, Arbeitszeitregelung und Informationsrechten eingeräumt, die sonst nur ein Betriebsrat wahrnehmen kann. Mit einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden, voller Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch in der 7. bis 12. Woche und mit einer jährlich vorgeschriebenen Lohnerhöhung entsprechend der jährlichen Inflationsrate plus zwei Prozent wird der Tarifvertrag Einzelhandel klar überboten.

Das Lohngefälle ist abgeschafft, ein Teil der Arbeiter verdient durch den verbindlichen Einheitslohn nun 30 Prozent mehr. Die entscheidende Regelung im Haustarifvertrag stellt aber die Generalstreikklausel dar: Durch sie erhalten die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter das Recht, jederzeit zu streiken. So wird die sozialpartnerschaftliche Friedenspflicht umgangen und die Rechte der Arbeiter auf Widerstand im Betrieb entscheidend ausgeweitet.

Dieses Ergebnis ist den zähen Verhandlungen der Tarifkommission zuzuschreiben, aber vor allem dem Willen der Arbeiter, die sich zu 100 Prozent in der FAU zu organisieren. Nächstes Jahr läuft der Tarifvertrag aus und Neuverhandlungen stehen an. Schon jetzt stehen für die Beschäftigten verschiedene Fragen: Wie lassen sich die Arbeiter, die im Zuge der Vergrößerung des Unternehmens hinzukommen, in die Betriebsgruppe integrieren? Wie wirkt sich die gewachsene Verantwortung der Arbeiter auf ihr Verhältnis zum Unternehmen aus? Wie wird mit internen Konflikten umgegangen? Gemeinsam, so sind wir überzeugt, werden auch die Herausforderungen der Zukunft zu meistern sein.

Für die laufende Organisierung der FAU im Bereich Handel und Logistik bleibt der Haustarifvertrag und das Betriebsgruppenkonzept ein Vorbild. Hier gehen materielle Verbesserungen für die Arbeiter mit einer Ausweitung ihrer Rechte einher. Auf diese Weise können Tarifverträge in der anarchosyndikalistischen Strategie einen wichtigen Zwischenschritt zur vollständigen Selbstverwaltung des Betriebs durch die Belegschaft darstellen. Hierfür sind kämpferische Betriebsgruppen unverzichtbar, die die FAU Betriebsräten vorzieht. Betriebsgruppen ist es möglich, weit mehr Mitarbeiter*innen einzubeziehen als ein Betriebsrat, ob nun Gewerkschaftsmitglied oder nicht, ob nun Selbstständige oder Leiharbeiter. Hier können Entscheidungen gemeinsam getroffen werden, statt sie an Einzelne zu delegieren und die Betriebsgruppe kann – mit der Gewerkschaft im Rücken – wirksame Forderungen aufstellen und zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Die Praxis der FAU zeigt: Starke Betriebsgruppen können Betriebsräte überflüssig machen.

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