Detroit: Von der Motown zum Urban Farming?

Quelle: www.anarchosyndicalism.net

In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann die US-Automobilindustrie einen groß angelegten Angriff auf die streikerprobten Belegschaften der Automobilfabriken in Detroit, Michigan. Innerhalb von weniger als fünfzehn Jahren wurden alle Werke der „Motown“ geschlossen oder in die Südstaaten der USA verlagert, wo die Löhne deutlich niedriger waren. Vor allem aber hoffte man darauf, dass die Belegschaften dort unerfahrener und somit leichter zu erpressen sind.

Für Detroit hatte diese gezielte Deindustrialisierung verheerende Folgen. Die Einwohnerzahl sank von knapp 2 Millionen auf heute weniger als 700.000. Die faktische Arbeitslosenquote liegt bei rund 50 Prozent, 80 Prozent der ArbeiterInnen ohne Job sind Farbige. Wer konnte, ist weggezogen. Mit dem Wegzug der ArbeiterInnen aus Motown brach die gesamte Infrastruktur zusammen. An vielen Orten gleicht Detroit heute einer Geisterstadt. Große Brachflächen, leerstehende und zerfallene Häuser prägen das Stadtbild. Mehr als 30 Prozent des Stadtgebietes gelten inzwischen als unbewohnbar. Das in der Motor-Town traditionell unterentwickelte Nahverkehrssystem ist heute kaum mehr vorhanden.

Für viele derjenigen, die geblieben sind, ist es immer schwieriger geworden, ihren von Gelegenheitsjobs und Arbeitslosenunterstützung geprägten Alltag zu organisieren. Es gibt kaum Infrastruktur, viele Schulen wurden geschlossen. Geschäfte und Supermärkte sind in die Vororte gezogen. Die Lebensmittelversorgung beschränkt sich auf Fertigprodukte in den Tankstellen oder Kiosken an der Ecke. Frisches Obst und Gemüse gibt es kaum.

In dieser Situation begannen Anfang der 90er einige Leute aus den Communities damit, aufgegebene Flächen zu besetzen und dort Gemüse und Obst für sich und die Nachbarschaft anzubauen. Binnen weniger Jahre machte dieses Beispiel Schule. Heute gibt es in Detroit ein Netzwerk von mehr als 1.200 sog. „Urban Farms“. Manche sind nur wenige Dutzend Quadratmeter groß, andere mehrere Hektar. Einige werden privat betrieben, viele aber auch durch Nachbarschaften und Kooperativen. So gibt es beispielsweise das „Detroit Black Community Food Security Network“, das nicht nur Gemüse anbaut, sondern direkt in seinen angeschlossenen Food-Coops vetreibt. Andere „Urban Farms“ geben das, was sie für ihre Mitglieder nicht selbst verbrauchen an die zahlreichen Suppenküchen weiter, vor denen die Schlangen in den letzten Jahren immer länger geworden sind. Heute produzieren viele Communities einen großen Teil ihres Gemüses und Obstes selbst. Das meiste davon übrigens sogar Bio, da von Beginn an auf Pestizide und chemische Kurzzeitdünger verzichtet wurde. Rund um das „Urban Farming“ hat sich ein Selbsthilfe-Netzwerk entwickelt, in dem Erfahrungen und Saatgut weitergegeben werden. Seither entwickeln sich derartige Projekte auch in anderen US-Bundesstaaten und dehnen sich rasant aus.

Wie kaum anders zu erwarten, hat das öffentliche Interesse rund um das „Urban Farming“ schnell profitorientierte Interessen geweckt. So möchte eine Investorengruppe rund um den Finanzmanager John Hantz in großem Umfang Land in der Motor-City aufkaufen. Dort soll für mehr als 30 Millionen Dollar konventionelles High-Tech „Urban Farming“ im großen Stil betrieben werden. Warum sich die Investoren ausgerechnet für Detroit entschieden haben, darüber lässt Hantz keine Zweifel aufkommen: Der Grund und Boden sei günstig und die Löhne in der deindustrialisierten Motor-City niedrig.

„Urban Farming“ ist dabei weder ein neues Phänomen, noch eines, das sich auf die USA beschränkt. Der Anbau eigener Lebensmittel ist für viele ArbeiterInnen im Prozess der Proletarisierung immer wieder Überlebensnotwendigkeit gewesen. So gehörte zu jeder Bergarbeiterwohnung in einer Siedlung des Ruhrgebietes stets ein Garten für die Selbstversorgung und häufig ein Stall zur Haltung von Geflügel oder eines Schweins. Anders ließ sich über Jahrzehnte mit den Löhnen überhaupt nicht auskommen. Ähnliche Strukturen finden sich heute noch (oder wieder) in vielen anderen proletarischen Vierteln rund um den Globus.

Bemerkenswert an der „Urban Farming“-Bewegung sind aber sicherlich zwei Dinge: Zum einen stellt sie eine Reaktion auf die tiefe Krise des kapitalistischen Weltsystems dar, die wir derzeit erleben. Die Deindustrialisierung Detroits und die Zerschlagung der stolzen und kämpferischen Belegschaften dieser Stadt könnten sich als ebenso exemplarisch für die Entwicklung der nächsten Jahre in vielen Teilen der Welt herausstellen, wie der Rückgriff auf das „Urban Farming“ als eines Teils der Antwort der Communities. Interessant ist aber sicherlich auch, dass ein Teil des „Urban Farming“ gemeinschaftlich organisiert wird und dies von manchen Initiativen bewusst als Teil eines „Buen vivir“ oder des Kampfes um die „Commons“ propagiert wird. In gewisser Weise erinnert das an die Selbstversorgungsprojekte der 20er Jahre, die von arbeitslosen Mitgliedern der anarcho-syndikalistischen „Freien Arbeiter Union Deutschlands“ (FAUD) in verschiedenen deutschen Städten betrieben wurden.

Man kann und muss sicherlich darüber streiten, ob es einen Fort- oder einen Rückschritt darstellt, wenn ArbeiterInnen sich (wieder) Gedanken darüber machen müssen, wie sie selbst für bezahlbares und giftfreies Obst und Gemüse sorgen können. Eines aber dürfte sicher sein: Mit dem Fortgang und der Verschärfung der derzeitigen Krise und ihrer Folgen wird „Urban Farming“ weit über Detroit hinaus populär werden.

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