Frei im Mai

„Braucht es einen neuen Mai 68?“ Eine Frage, mit der sich jede neue Bewegungswelle in Frankreich seit Jahrzehnten beschäftigt.

Im Jahr 2009 gründete sich um die aus dem antifaschistischen Verlagswesen bekannten Willi Bär und Carmen Bitsch sowie den wegen seiner Zugehörigkeit zum RAF-Kommando „Holger Meins“ jahrzehntelang inhaftierten Karl-Heinz Dellwo (Das Projektil sind Wir) der Laika Verlag. Viele ambitionierte Veröffentlichungen befinden sich noch in Planung, ein publizistischer Weg ist jedoch schon eingeschlagen: So wird auf ein dreigleisiges Konzept aus Historie (Bibliothek des Widerstands), Diskurs (Edition Provo) und (neo-)marxistischer Philosophie (Laika Theorie) gesetzt. Zu den Büchern gesellen sich jede Menge Medien in Ton und Film. Inhaltlich bewegt sich der Laika Verlag oft im Umfeld des traditionellen Internationalismus und, als dessen Fortsetzung, der so genannten „globalisierungskritischen Bewegung“. Beiträge zu Idolen dieser Szene wie Angela Davis, Rudi Dutschke oder Mumia Abu-Jamal sind da genauso folgerichtig, wie es auch die Partnerschaft etwa der Jungen Welt ist. Aber es wäre dennoch verfehlt, diesen Verlag als Think Tank eines Parteikaderavantgardismus anzusehen – Anti-Autoritarismus ist bei Laika mehr als nur ein Randthema.

Paris ’68: Anti-Autoritär für den Parteikommunismus?

In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch Buch und Filme der Laika-Veröffentlichung Paris Mai 68 – Die Phantasie an die Macht aus der Bibliothek des Widerstands. 2011 erschienen, werden hier Reflektionen anlässlich des 40. Jahrestages der Aufstände und Revolten im Mai/Juni 1968 in Frankreich zusammengefasst und präsentiert. Maßgeblicher Erzähler und Protagonist ist der letztes Jahr verstorbene Daniel Bensaïd, mit Daniel Cohn-Bendit wohl der prominenteste Kopf der studentischen Revolte von Nanterre, an der sich die Bewegungen entzündeten. Das Aufgehen wichtiger Aktiver der studentischen Revolte im politischen Establishment ist, wenig verwunderlich, ein wichtiges Thema des Buches: So bemerkt Bensaïd pointiert, mit welcher Kreativität etwa Cohn-Bendit die Regierungstaktik der Grenelle – des runden Tisches – als „Erfolg“ von ’68 wertet, um so den eigenen Wendehals als heroische Eigenschaft zu verklären. Runde Tische anstatt der klassenlosen Gesellschaft – für aufgestiegene AkademikerInnen und die Gewerkschaftsspitzen hatten sich die beispiellosen Kämpfe jener Zeit also ausgezahlt. Als Trotzkist sieht Bensaïd im studentischen Verständnis von Anti-Autoritarismus als eher kulturelle denn politische Kategorie den Ausgangspunkt für den späteren Opportunismus und Konformismus seiner AkteurInnen. Damals noch größte Widersacher des bürokratischen Parteikommunismus, für den die KPF stand, deuten gerade die damaligen Anti-Autoritären der studentischen Bewegung heute eben jene Befriedungsstrategien der poststalinistischen Gewerkschaften und die Politik der KPF – das Verhandeln mit der Regierung – als Beweis für „ihren“ Sieg. Tatsächlich, wie schon anzunehmen war, plädiert Bensaïd dagegen für einen sich an militanter Parteipolitik orientierenden Avantgardismus: Es hätte eine linke Partei gefehlt, die für einen Generalstreik eintreten und eine revolutionäre Perspektive hätte aufzeigen können.

Streikanalyse und Nostalgie

Der im Buch Paris Mai 68 – Die Phantasie an die Macht angeschlagene Ton ist, wie der Titel schon andeutet, stellenweise sehr prosaisch, zuweilen direkt schwärmerisch. Schweren Herzens werden die unzähligen Debatten innerhalb der französischen Politik nachgezeichnet, die die Kämpfe zum bloßen „Ereignis“ abstempeln oder teilweise, wie es Präsident Sarkozy in Anlehnung an einen Ausspruch Joseph Ratzingers tat, als moralische Erbsünde der französischen Nation dämonisieren. Treffend wird dies als Beweis für die Tragweite dessen geschildert, was in jenen Tagen geschah: Von 15 Millionen Werktätigen streikten, je nach Schätzung, zwischen sieben bis neun Millionen; im historischen Jahr 1936, als in antifaschistischer Euphorie Frankreich in eine revolutionäre Situation zu fallen schien, waren es etwa drei Millionen. Mit 150 Millionen Streiktagen wurde im Mai und Juni ‘68 ein bei weitem unerreichter Rekord in der Geschichte der westeuropäischen ArbeiterInnenbewegung der Nachkriegszeit aufgestellt – selbst zu Zeiten des italienischen Operaismus wurden dem Kapital maximal 37 Millionen Streiktage am Stück aufgezwungen. Wie schon in Frankreich um 1936, wurde auch 1968 nicht einfach gestreikt: Die Beschäftigten besetzten ihre Betriebe, die großen Fabriken, aber auch die Friseursalons, Büros, „Fußballer ihre Vereinsheime, die SchauspielerInnen ihre Theater“. Ganz anders als in der BRD, gingen die Proteste zwar von den aufbegehrenden Studierenden aus, jedoch solidarisierten sich die ArbeiterInnen mit denen von blutiger staatlicher Repression betroffenen Studierenden und machten aus „‘68“ ihre eigene Bewegung: Gegen den Zwang zur Lohnarbeit, gegen die Kontrolle durch Vorgesetzte und die Gewerkschaftshierarchie. Bemerkenswerterweise werden in Paris Mai 68 – Die Phantasie an die Macht die weitverbreiteten basisdemokratischen Streikkomitees – 176 im ganzen Land! – und die kollektiven Fabrikbesetzungen als stärkste Strukturen für eine potentielle Befreiung aus der Fremdbestimmung angesehen. Noch wichtiger als der Widerstand gegen Polizei und Spätgaullismus sei der Widerstand gegen die Spitzen der großen Gewerkschaften gewesen: Ausbruch aus der Hierarchie des Arbeitslebens und der Gewerkschaftsorganisation als wahrer Anti-Autoritarismus.

Baer, Willi & Dellwo, Karl-Heinz: Paris Mai 68 – Die Phantasie an die Macht. Laika Verlag, Hamburg 2011. 216 Seiten, ISBN-10: 3942281864, EUR 29,90.

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