Ruf mich nicht an!

„Die Fassade der Callcenter ähnelte den Fabriken der Vergangenheit kaum. Vor allem aber sollte ihre Unternehmenskultur samt Work-Life-Balance die kollektive Arbeitserfahrung in eine Frage individueller Lebensführung verwandeln. Die Callcenter waren Teil einer allgemeinen Propaganda, die, seit den 1980ern vorherrschend, das ‚Ende der Arbeiterklasse’ verkündete – während zur selben Zeit große Teile der vormaligen Büroangestellten unter einem Dach konzentriert und proletarisiert, also einer fabrikmäßigen Arbeitsweise unterworfen wurden. Anstatt neoliberale Subjekte zu individualisieren, weiteten Callcenter das industrielle System auf die Welt der Büros aus und kollektivierte einen Teil der Arbeiterklasse (Bankbeschäftigte z.B.), der sich selbst zuvor als ‚gebildete Angestellte’ gesehen hatte. Als arbeitsintensive und mobile Branche gelangten Callcenter schnell dahin, Arbeitskräfte aus verschiedenen Teilen der Welt zusammenzubringen.“ So die rückblickende Analyse in der Einleitung zur indischen Neu-Ausgabe des 2002 erschienenen Callcenter-Buches „Hotlines“.

Für Gewerkschaften war es bisher schwer, in dieser arbeitsintensiven, aber fragmentierten Branche Fuß zu fassen. Nun scheint die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi, DGB) bei der S-Direkt Marketing GmbH, dem zentralen Callcenterbetreiber der Sparkassen, den Sturmangriff zu wagen: 92,3 % der Mitglieder votierten in der Urabstimmung für einen unbefristeten Streik. 250 Kolleginnen und Kollegen traten am 9. Juli in den Ausstand. Damit begann der wohl längste Streik im Callcenter-Sektor der Bundesrepublik.

Etwa 950 Beschäftigte hat S-Direkt an vier Standorten in Deutschland, rund 800 davon arbeiten in Halle/Saale. Die Bandbreite des angebotenen Service reicht vom Sperren von EC-Karten über Überweisungen bis hin zum Abwickeln telefonischer Wertpapieraufträge. Ruft man seine Sparkasse an, landet man höchstwahrscheinlich in der Händelstadt. Es ist ein lukratives Geschäft, den Service für die rund 423 Sparkassen der Bundesrepublik abzuwickeln. Nicht nur profitiert S-Direkt von Niedriglöhnen, sondern auch aus dem Fonds zur „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ griffen sie schon mal 266.843 Euro an Steuergeldern ab – schafft schließlich Arbeitsplätze.

Laut Aussagen der Gewerkschafterin Iris Kießler-Müller wurde das Bruttogehalt bei S-Direkt seit 1996, also seit Bestehen der Firma, nie erhöht. Es liegt bei 1280 Euro (7,38 Euro/Stunde). Verdi fordert nun eine sofortige Erhöhung auf 8,50 Euro Einstiegslohn und eine weitere Aufstockung auf 9,00 Euro Mitte 2013. Das wären ca. 150 Euro mehr im Monat.

Würde, Weitblick, Wohlbefinden

Bei dem laufenden Streik geht es aber nur vordergründig um einen Stundenlohn von 8,50 Euro. Eigentlich geht es um viel mehr. Für die Beschäftigten zählt, von ihrer Arbeit korrekt leben zu können und nicht nach 40 Wochenstunden noch zum Amt rennen zu müssen – und es geht ihnen auch darum, nicht in schon jetzt vorprogrammierter Altersarmut zu enden. Diese Angst der Beschäftigten kommt nicht von ungefähr, denn „der Anteil der sogenannten Aufstocker ist in dieser Branche fast dreimal so hoch wie in der Wirtschaft insgesamt“, sagt die Linke-Abgeordnete Sabine Zimmermann.

Ein besserer Lohn ist zwar das Hauptziel der Beschäftigten, aber auch die Arbeitsbedingungen bei S-Direkt sind Gegenstand der Kritik: Noch bis kurz vor dem Streik war ein Arbeitsplatz gerade mal 2,9 Quadratmeter klein. Dies sei zwar mittlerweile geändert worden, aber von den erforderlichen neun Quadratmetern, so Verdi, ist S-Direkt noch weit entfernt. Doch das ist noch nicht alles: Bei schlechter Luft am Arbeitsplatz und ständiger Lärmbelästigung ist es nicht verwunderlich, dass etliche KollegInnen darüber klagen, ständig mit Kopfschmerzen nach Hause zu gehen.

Auf diese Forderungen reagierte die Geschäftsführung mit der alten Leier von übertriebenen Vorstellungen, die Arbeitsplätze gefährden würden, und droht mit der Verlagerung ins Ausland. Das „Angebot“ der Bosse beinhaltete eine langgezogene Anhebung der Löhne auf 8,50 Euro bis 2014. Gelten sollte dies zuerst für langjährig Beschäftigte. Ein Hohn für die Streikenden, ist doch die Fluktuation in der Branche extrem hoch. In der Konsequenz hat Verdi die festgefahrenen Verhandlungen Ende August abgebrochen. Seitdem setzt die Geschäftsleitung einseitig ihr letztes Angebot um.

Da der Streik aber ungebrochen weiterläuft setzt die Geschäftsleitung mittlerweile Streikbrecher ein, um den Widerstand zu brechen und das Geschäft aufrechtzuerhalten. Geliefert werden diese u. a. durch die Agentur für Arbeit, die eifrig Leiharbeiter vermittelt. Die so als Streikbrecher missbrauchten können sich dagegen nicht mal wehren. Denn lehnen sie ab, riskieren sie eine Leistungssperre. Verdi versucht nun, die Leiharbeiter gerichtlich aussperren zu lassen. Aber auch von anderer Seite droht Streikbruch, denn S-Direkt wirbt derzeit massiv auf dem Campus der Universität für Nebenjobs, die – so erklärt Betriebsrat Bittner der Direkten Aktion – zusammen mit befristeten Verträgen zwei Drittel der 800 Beschäftigten bilden.

Am 4.10. war dann auch SPD-Chef Sigmar Gabriel in Halle, um die Streikenden zu unterstützen und ihnen „nebenbei“ mitzuteilen, dass die SPD einen Mindestlohn von 8,50 Euro unterstütze. Kein Wort davon, dass die Arbeitsmarktreformen unter dem SPD-Kanzler Schröder solche Dumpinglöhne erst ermöglicht haben. Ein Schelm, wer da an die kommende Bundestagswahl denkt. Die 250 Streikenden harren derweil an einer Mahnwache aus. Ende Oktober waren sie bereits seit mehr als 100 Tagen im Streik.

Schreibe einen Kommentar