Zur Lage der Gewerkschaften

Marcel Meyer ist aktives Basismitglied in der größten Gewerkschaft der Schweiz, der Unia. Obwohl er dem, wie er es nennt „demokratischen Zentralismus“ kritisch gegenübersteht. Marcel ist Teil des Netzwerk Arbeitskämpfe und versucht in diesem Rahmen spontan ausbrechende oder bereits laufende Kämpfe mit oder ohne Gewerkschaftsbeteiligung zu unterstützen, das Konzept der ArbeiterInnenselbstorganisation bekannt zu machen und Kämpfe untereinander zu vernetzen. Die Unia ist eine Großgewerkschaft ohne Ausrichtung auf eine bestimmte Branche, hat aber Schwerpunkte auf dem Bau und in der Industrie. Sie hat knapp 200.000 Mitglieder und entstand 2004 durch die Fusion der Bau- und Industriegewerkschaft GBI, der Maschinen-, Metall- und Uhrengewerkschaft SMUV und einiger kleinerer Gewerkschaften.

Die DA unterhielt sich mit Marcel über die zentralistischen Gewerkschaften in der Schweiz, über Kämpfe und Probleme.

Die Löhne sind hoch, die Arbeitsbedingungen meistens gut, was gibt es für Gründe in der Schweiz einen Arbeitskampf zu beginnen?

Es gibt viele Gründe. Ich denke, das ist nicht so viel anders als in anderen Ländern. In manchen Branchen, wie dem Bau, gibt es zwar gute Verträge, aber die werden fast flächendeckend unterlaufen. Dann gibt es gewisse eher exponierte Gruppen von ArbeitnehmerInnen, wie Lehrlinge, Frauen oder MigrantInnen. Lehrlinge werden in manchen Betrieben nicht wirklich ausgebildet, sondern eher als billige Handlanger missbraucht. Frauen verdienen in der Schweiz im Schnitt ein Fünftel weniger als Männer und MigrantInnen werden übervorteilt, da sie die Schweizer Gesetze nicht kennen. Das Problem ist, dass viele nicht wissen, dass sie sich wehren können.

Wie meinst du das?

Zum Beispiel denken viele, dass Streiks in der Schweiz illegal sind, das ist aber nicht der Fall. Es gibt nur nicht sehr viele. Sehr oft werden Streiks auch in anderen Landesteilen totgeschwiegen. Als etwa die PflegerInnen im Neuenburger Spital La Providence ab Ende November 2012 streikten, gab es fast zwei Monate lang keinen einzigen Zeitungsartikel auf Deutsch. Dasselbe galt in einem weniger extremen Rahmen auch für den erfolgreichen Streik in Bellinzona 2008. Die Tessiner Medien mussten darüber einigermaßen ausgewogen berichten, vor allem als die Streikenden es schafften die halbe Bevölkerung zu mobilisieren, aber in der Deutschschweiz wurde wenig und unausgewogen darüber berichtet.

Während dem Streik bei SPAR in Baden-DättwilDu hast den Streik bei La Providence angesprochen, dort wurden ja die Streikenden entlassen. Ist dies eine neue Entwicklung?

In diesem Ausmaß ist dies schon eine neue – oder zumindest eine seit langem nicht mehr angewandte – Praxis. Nachdem die Streikenden bei La Providence entlassen wurden, reichten die Gewerkschaften Klagen bei der ILO [International Labour Organisation, Gewerkschaftsabteilung der UNO] ein. Doch als innerhalb der Schweiz nichts passierte, wurde bei zwei anderen Streiks dasselbe angewendet. Beim Besetzungsstreik beim Tankstellensupermarkt in Baden-Dättwil wurden die Aktivsten nach zwei Wochen Streik entlassen und auch beim Streik am Genfer Flughafen bei GateGourmet, ist dies vorgekommen. Es scheint, als sollen die Rechte der GewerkschafterInnen weiter beschnitten werden.

Haben denn GewerkschafterInnen nicht einen rechtlichen Schutz in der Schweiz?

Theoretisch ja, es gibt natürlich auch in der Schweizer Verfassung einen Artikel zur Koalitionsfreiheit und es gibt auch einen Schutz für GewerkschafterInnen in gewählten Gremien. Diese Gesetzesartikel sind in der Praxis allerdings ziemliche Papiertiger, da nur im Rahmen des Gleichstellungsgesetzes auf Wiedereinstellung geklagt werden kann. Das Gesetz sieht bei missbräuchlichen Kündigungen nur eine Entschädigung von eins bis sechs Monatslöhnen vor. In der Praxis erhält kaum jemand mehr als zwei und für das lohnt sich die Klage oft kaum.

Versuchen die Gewerkschaften denn nicht mit aller Kraft in diesem Thema etwas zu verändern?

Sie versuchen schon, aber die in den beiden Dachverbänden Schweizerischer Gewerkschaftsbund und Travail.Suisse zusammengeschlossenen Gewerkschaften sind ziemlich zahm. Durch die in den GAV [Gesamtarbeitsverträge; ~Tarifverträge] enthaltenen Ausbildungs- und Kontrollabgaben fließt viel Geld in die Apparate. Sie könnten es kaum verkraften, wenn diese Abgaben komplett wegfielen und genau damit drohen ArbeitgeberInnenverbände wie etwa der Schweizerische Baumeisterverband. Das andere Problem ist, dass die Schweiz offenbar kein Interesse hat die Gewerkschaftsrechte zu stärken, auch wenn sie dafür von der ILO schon mehrfach gerügt wurde.

Die SozialdemokratInnen und Gewerkschaften machten in der letzten Zeit mit der 1:12- und der Mindestlohninitiative auf sich aufmerksam, die mit Gesetzen gewerkschaftliche Themen regeln wollen. Was ist das Ziel solcher Vorstöße?

Das Ziel dieser Vorstöße ist es nüchtern betrachtet, sozialdemokratische Politik über die Verfassung [im Grunde ermöglichen Initiativen Verfassungszusätze] einzuführen. Vor allem die Mindestlohninitiative bereitet mir aber etwas Bauchschmerzen. Zum einen steht hier ein Instrument zur Verfügung um flächendeckende Mindestlöhne ohne Ausnahmen einzuführen, auf der anderen Seite wird ein Kernthema der Gewerkschaften an die parlamentarische Politik delegiert. Die Forderung wird, wenn sie denn erfüllt wird, nicht durch Organisierung und Stärke der Gewerkschaften erfüllt, sondern über eine Abstimmung. Und das könnte die Gewerkschaften nachhaltig schwächen.

Inwiefern?

Die ArbeitgeberInnen können sich weiterhin auf den, meiner Meinung nach, einseitigen Arbeitsfrieden verlassen und bei neuen Vertragsverhandlungen verlangen, dass die Löhne nicht zum Thema werden, da es ja einen Mindestlohn geben würde. Was aber weitaus schlimmer ist, ist dass die eher schlecht organisierbaren Temporären [LeiharbeiterInnen] und sonstig prekär Angestellten noch weniger einen Grund sehen könnten sich im Betrieb zu organisieren. Ihr Lohn wurde ja „vom Volk“ und nicht von der Gewerkschaft erhöht. Und ganz übel könnte es auch werden, wenn die Initiative nicht durchkommt, denn dann – und das wird häufig gemacht – kann argumentiert werden, dass „das Volk“ keine so hohen Löhne wolle. Und „Volk“ ist immer gleichbedeutend mit „alle“ oder zumindest der großen Mehrheit.

Du hast vorhin von Leiharbeit angesprochen, wie ist die Stellung der Temporären in den großen Gewerkschaften?

Es kommt extrem auf die Branche an. In den Branchen in denen es allgemeinverbindliche GAV gibt, sind die Arbeitsbedingungen zumindest auf dem Papier gleich wie für Festangestellte. In gewissen Branchen wie dem Baunebengewerbe gibt es durchaus organisierte Temporäre. In prekäreren Branchen, etwa bei Callcentern, ist kaum eine Organisierung vorhanden.

Die Gewerkschaften lancieren zwar teilweise Kampagnen bei denen die Temporären die Zielgruppe sind, aber wirkliche Konzepte zur Leiharbeit habe ich bis jetzt noch nicht mitbekommen.

Wohin entwickeln sich deiner Meinung nach die Gewerkschaften?

Im Moment hat zum Beispiel die Unia ein Organising-Programm am laufen. Im Rahmen dieses Programms werden GewerkschaftsfunktionärInnen in die USA zur SEIU geschickt und lernen dort deren Konzepte kennen. Dieses Organising bleibt aber im kleinen Rahmen und untersteht immer der Kontrolle des Apparats. Der Streik in Baden-Dättwil – einer der militantesten Streiks in der Deutschschweiz in den letzten Jahren – kam zum Beispiel über ein Organising-Projekt zustande. Der Streik sah auch anders aus: Die Streikenden, vor allem migrantische Frauen, waren stets präsent und traten öffentlich auf. Die ‚dunkle‘ Seite des Organisingprojekts wurde aber auch deutlich: In der Unia ist es so, dass am zweiten Streiktag die Verantwortung an die oberste Leitung der Unia übertragen werden muss. Nach ein paar Tagen war das dann auch überdeutlich zu sehen: Die hohen Tiere stolzierten auf den Streikposten auf und ab und in Fernsehinterviews waren sie plötzlich mehr gefragt als die Streikenden.

Schreibe einen Kommentar