Eine Wahl und ihre Folgen

Eine Umfrage, die kurz nach den Europaparlamentswahlen in Frankreich erschien, rief erhebliche Beunruhigung in linken und Gewerkschaftskreisen hervor. Es ging bei der Befragung, deren Ergebnisse am 27. Mai 2014 durch die KP-nahe Tageszeitung L’Humanité publiziert wurden, um das Wahlverhalten gewerkschaftlich orientierter Lohnabhängiger – bei einer Wahl, bei der die extreme Rechte 24,9% der Stimmen in Frankreich erhielt.

Diese Resultate sind sicherlich mit großer Vorsicht auszuwerten: Einerseits wurde bei den Befragten nicht ihre Gewerkschaftsmitgliedschaft überprüft, sondern lediglich die subjektive und selbsterklärte „Nähe zu einer Gewerkschaft“ abgefragt. Zum anderen ist es auch hier so, dass am 25. Mai dieses Jahres die Wahlenthaltung die mit Abstand stärkste „Partei“ darstellte. (Unter den „gewerkschaftsnahen“ Lohnabhängigen betrug die Stimmenthaltung 53% – und lag damit unterhalb des Durchschnitts –, unter den „nicht gewerkschaftlich orientierten“ abhängig Beschäftigten lag sie dagegen bei weit überdurchschnittlichen 69%.)Dennoch sind die Ergebnisse insofern aussagekräftig, als bei jeder Wahl seit mindestens 1995 dieselbe Befragung nach demselben Strickmuster durchgeführt wird, so dass zumindest Vergleiche von einem Ergebnis zum anderen angestellt werden können. Die diesjährigen Resultate sind frappierend. Bislang wiesen zwar die (selbsterklärten) Gewerkschaftssympathisant-inn-en bei den eher rechten Beschäftigtenorganisationen wie dem christlichen Gewerkschaftsbund CFTC oder der historisch antikommunistisch geprägten FO hohe Anteile von rechtsextrem Stimmenden auf. Um die zwanzig Prozent war hier seit Jahren die Regel. Doch eher links eingestufte Gewerkschaften, wie die Bildungsgewerkschaft FSU oder der Zusammenschluss alternativer Basisgewerkschaften (vom Typ SUD), also die Union Syndicale Solidaires, waren davon nur in geringem Ausmaß berührt.Bei der diesjährigen Europaparlamentswahl stimmten jedoch 27 Prozent derer, die eine – wie vage auch immer – Sympathie für SUD/Solidaires angaben und die nicht zu Hause blieben, für den Front National. Bei den selbsterklärten Sympathisanten der „postkommunistischen“ CGT sind es 22, bei FO 33 und bei den „nicht gewerkschaftlich orientierten“ Lohnabhängigen 34 Prozent. Unterdessen beschreitet der Front National einmal mehr ungewöhnliche, von der rechtsextremen Partei jedenfalls nicht erwartete Wege. Beim jüngsten Eisenbahner-innen-streik in Frankreich, welcher am 10. Juni 2014 begann und bei Redaktionsschluss dieses Artikels am 24. Juni in den meisten Regionen stark abgebröckelt war, ging die Partei strategisch klug vor: Der Front National konnte zwar unmöglich die Gewerkschaften CGT und SUD und ihren Streik unterstützen und erklärte auch, den (durch die Medien eifrig geschürten) Unmut vieler Leute über den Transportstreik zu verstehen. Dabei wendete er den Zorn aber nicht gegen

Kundgebung gegen einen Besuch von Marine Le Pen in Digne-les-Bains im November 2013

die Beschäftigten, sondern gegen die Europäische Union, die an allem schuld sei und die Bahnreform erzwinge. Im gleichen Atemzug versucht die extreme Rechte, die Gewerkschaften zu umgehen, indem sie sich formal radikaler gibt als jene – innerhalb der Bahngesellschaft SNCF seien die Gewerkschaften „Komplizen“ der Direktion –, um zur Bildung von „Komitees zur Verteidigung des öffentlichen Diensts“ aufzurufen. Dies wäre natürlich ausgesprochen zweischneidig, denn solcherlei Komitees würden sich bei Bedarf gegen Regierungspläne und gegen eine Zerschlagung der Bahn mobilisieren lassen, aber ebenfalls bei Bedarf gegen Streiks als „Bedrohung für die Dienstleistung“.

Zu den Neuigkeiten in ihrem Auftreten gehört auch, dass der Front National in diesem Jahr mehrere Gewerkschaftsmitglieder auf seinen Listen zu den französischen Kommunalwahlen vom 23. und 30. März 2014 aufbot. Erstmals war dies bei den Bezirksparlamentswahlen vom März 2011 der Fall gewesen, damals waren aber alle Betreffenden durch die jeweiligen Gewerkschaftsverbände (CGT, CFDT, Union Syndicales Solidaires…) ausgeschlossen worden. Nicht so in diesem Jahr.

Aller Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesen Kandidat-inn-en in aller Regel nicht um „U-Boote“, die speziell eingeschleust wurden, sondern um Personen, die zuerst gewerkschaftlich organisiert waren und später – etwa aufgrund der gesammelten Enttäuschungen mit anderen Parteien – durch die extreme Rechte angeworben wurden.Die meisten Gewerkschaften sind alarmiert. Mittels einer zentralen Veranstaltung in Paris am 29. Januar 2014 unter dem Titel „Nein zur extremen Rechten, ihren Ideen und ihren Praktiken“ sowie vielen regionalen und lokalen Veranstaltungen widmen die Gewerkschaften dem Problem des rechtsextremen Einflusses unter den Lohnabhängigen zahlreiche spezielle Initiativen. Die Veranstaltung in Paris vom Januar mit mehreren hundert Personen war durch die CGT, durch die FSU und die Union Syndicale Solidaires gemeinsam ausgerichtet worden. Viele regionale Initiativen für antifaschistische Arbeit werden durch die gewerkschaftsübergreifende Initiative VISA (Vigilance et initiative syndicales antifascistes) organisiert, wie beispielsweise eine Gewerkschafter-innen-tagung am 14. und 15. Juni 2014 in Marseille. Dazu kamen mehrere Dutzende Mitglieder von CGT, anarcho-syndicalistischer CNT, FSU und Union Syndicale Solidaires zusammen.

In der Mehrzahl der Fälle schließen die Gewerkschaften solche Mitglieder, die für die Neofaschisten kandidieren, aus ihren Reihen aus. Die besonders in der derzeitigen Mobilisierung gegen die Rechtsextremen engagierten Gewerkschaften – die eher linken Dachverbände CGT und Solidaires sowie die Bildungsgewerkschaft FSU – sind sich darüber einig, aber auch die rechtssozialdemokratisch geführte CFDT verfährt ähnlich.

Anders dagegen verhält sich Force Ouvrière (FO), nach CGT und CFDT der drittstärkste Gewerkschaftsdachverband in Frankreich. Seit den Jahren des Kalten Kriegs hat FO, die sich 1947 von der damals kommunistisch geführten CGT abspaltet, oft als antikommunistische Gewerkschaft positioniert, weshalb sie auch überdurchschnittliche viele Rechte aufweist. Im ostfranzösischen Lothringen bewarb sich der 2011 wegen einer Kandidatur für den FN ausgeschlossene frühere CGT-Gewerkschafter Fabien Engelmann als Spitzenkandidat für das Rathaus in Hayange – einer ehemaligen Stahlarbeiterstadt nahe der luxemburgischen Grenze. Und er am 30. März wurde prompt zum Bürgermeister gewählt.Er gehört heute dem Dachverband FO an. Zu letzterem zählt auch die Kandidatin auf dem zweiten Listenplatz, Marie da Silva, Sekretärin bei der Regionalzeitung L’Est Républicain mit Sitz in Nancy. Im Namen der „politischen Unabhängigkeit der Gewerkschaften“ weigert sich FO, die Kandidatin auszuschließen. Dazu ein CGT-Vorstandsmitglied aus Nancy gegenüber dem Autor dieser Zeilen: „In ihren Verlautbarungen erklärt FO, man fordere lediglich von der Bewerberin, dass sie nicht mit ihrer Gewerkschaftsmitglied bei der Wahl für sich wirbt. Und tat dadurch so, als sei es einerlei, ob sie für die Sozialdemokratie oder für den Front National kandidiert!“

Schreibe einen Kommentar