Gerettet und doch verloren?

„Wir sind hier nicht für ein bisschen Charity angereist, sondern aus Solidarität.“ Mac Urata, Delegierter der Internationalen Transportgewerkschaft ITF, muss seinem Ärger Luft machen. Auf der abschließenden Pressekonferenz ihrer Tour durch mehrere Flüchtlingsunterkünfte in Suruç trifft die internationale Gewerkschafter*innen-Delegation auf einige Politiker*innen – und so auch auf den aus Ankara entsandten Gouverneur für die Provinz Sanliurfa. Dieser hat Urata mit seinem betonten Desinteresse an der Situation der säkularen und der jesidischen kurdischen Flüchtlinge in Suruç auf die Palme gebracht. Die meisten der Fragen, die die Gesandten der unterschiedlichen Gewerkschaftsverbände zu den Verhältnissen in den Flüchtlingscamps und den rechtlichen Möglichkeiten der Geflüchteten stellen, reicht der Politiker über sein Handy an Google weiter. Für Urata ein klares Zeichen, mit welcher Kompetenz und Ernsthaftigkeit dieser Regierungsbeamte mit der menschlichen Tragödie Hunderttausender Menschen umgeht, die nun notdürftig in jener Provinz untergekommen sind, für die er gegenüber der Zentralregierung von Ministerpräsident Erdogan verantwortlich ist. Sanliurfa grenzt im Süden an Syrien, und das Camp im Landkreis Suruç, das die Gewerkschafter*innen an diesem 16. Dezember des Jahres 2014 besuchten, liegt nur etwa zehn Kilometer von der seit Monaten hart umkämpften nordsyrischen Stadt Kobani entfernt. In diesem Camp leben etwa 3.800 jesidische Flüchtlinge, verteilt auf 830 Zelte, in bitterster Kälte, auf schlammigem Untergrund. Einige von ihnen waren zuerst aus dem Irak ins kurdische Rojava in Syrien geflohen und mussten nun von dort erneut dem IS entkommen.

Der Delegierte des internationalen Gewerkschaftszusammenschlusses ITF Mac Urata zu Besuch in einem Flüchtlingscamp nahe der syrischen Grenze

Für Urata ist ihre Lage sowie allgemein die Situation kurdischer Flüchtlinge aus Syrien ein politischer Skandal, der weit über die offen nach außen getragene Inkompetenz des Gouverneurs von Sanliurfa hinausgeht. In seinen Augen werden jene, die vor den heranrückenden Milizen des IS aus den kurdischen Gebieten Syriens – von den dortigen revolutionären Kräften „Rojava“ genannt – in die Türkei fliehen mussten, gegenüber anderen Flüchtlingsgruppen benachteiligt. Urata spricht die politische Unterdrückung linker Aktivist*innen und insbesondere linker Kurd*innen an: „Eigentlich wollte ich für eine lange geplante Kampagne gegen die Inhaftierung kurdischer Gewerkschafter*innen durch die türkische Regierung hier her reisen. Nur weil sie gewerkschaftlich aktiv und zudem noch kurdisch sind, werden sie von der AKP-Regierung als ,Terroristen‘ bezeichnet und willkürlich festgenommen. Doch nun steht unsere Reise aufgrund der von Menschen gemachten humanitären Katastrophe in dieser Region unter einem anderen Stern. Um es mal ganz vorsichtig und so diplomatisch wie möglich auszudrücken: Die Verteilung der staatlichen Hilfe für Flüchtlinge in der Türkei ist intransparent und ungerecht.“

Notdürftige Selbstorganisation gegen absichtliches staatliches Versagen

Auf Einladung der linken, in den 70er Jahren revolutionär-sozialistischen, heute dem Selbstbild nach „progressiv-emanzipatorischen“ Konföderation türkischer Gewerkschaften DISK (mit heute schätzungsweise 350.000 Mitgliedern) und des Dachverbands der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst KESK sind Mitte Dezember 2014 mehrere Delegierte der internationalen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse ITUC (International Trade Union Confederation) und der ITF (International Transport Workers Federation) sowie ihres europäischen Verbands ETF in den Landkreis Suruç gereist. Als „Fact finding Mission“ war das offizielle Ziel der Delegierten, Informationen über die Situation der Flüchtlinge vor Ort zu sammeln und an ihre Gewerkschaften weiterzugeben. Ebenso aber war es das Ziel, bereits auf dieser Reise die politische Situation insbesondere der kurdischen Flüchtlinge dadurch zu verbessern, dass das Verhalten der türkischen Regierung von internationalen Beobachter*innen öffentlich kritisiert wird. In der gleichnamigen Hauptstadt des Landkreises Suruç, in der vor dem Angriff des IS auf Rojava etwa 58.000 Menschen lebten, sind nun 70.000 kurdische Flüchtlinge aus Kobane untergebracht. Der Bürgermeister der Stadt prangerte auf der Pressekonferenz der Gewerkschaftsdelegierten an, seine Stadt erhalte keinerlei finanzielle und materielle Hilfe aus Ankara.

 Viele der Menschen, deren Häuser in der Schlacht um Kobane zerstört wurden und die
aufgrund ihrer Feindschaft gegenüber dem sunnitischen Islamismus des IS durch dessen
Milizen mit dem Tode bedroht sind, leben nun dichtgedrängt in Privathäusern und Wohnungen der hilfsbereiten Bevölkerung von Suruç. Doch deren Kapazitäten sind lange erschöpft, und um die Stadt herum sprießen die Flüchtlingscamps aus dem Boden. Ihre Versorgung bewerkstelligen neben lokalen kurdischen Verbänden in erster Linie Gewerkschaften, allen voran DISK und KESK – als einzige wesentliche Akteurinnen aus der Gesamttürkei. Für sie wirkt es wie ein Hohn, wenn sich ausgerechnet Erdogan, der Gewerkschaftsfeind und Gegner des demokratischen Projektes im kurdisch-syrischen Rojava, international mit der Hilfsbereitschaft der Türkei gegenüber den Flüchtlingen aus Syrien in Szene setzt. Sogar die Schulen in den kurdischen Flüchtlingscamps werden von den Gewerkschaften finanziert und betrieben – der ansonsten bis in die Privatsphäre der Menschen hinein so penible türkische Staat hält von „Schulpflicht“ oder gar einem „Menschenrecht auf Bildung“ in den kurdischen Flüchtlingszentren bisher äußerst wenig.

Angesichts des einsetzenden Winters befürchten die solidarisch aktiven Gewerkschaften nun eine erneute dramatische Verschlechterung der Situation. Die überwiegende Anzahl der in den Camps eingesetzten Zelte sind nicht wasserdicht, die Areale drohen sich zwischen Frost- und Tauperioden in kaltes Sumpfgebiet zu verwandeln. Es gibt fast nirgends in den Camps Strom, und für die flächendeckende Versorgung mit provisorischen Öfen sind es einfach zu viele Zelte. Kurzfristig besteht daher nur die Möglichkeit, durch Sach- oder Geldspenden genügend wasserdichte Planen in das Gebiet zu schaffen, um die Zelte rundherum abzudichten, sowie mit warmer Kleidung, Decken und Schlafsäcken der Kälte entgegenzuwirken. DISK, derzeit in wichtige Konflikte mit dem türkischen Kapital und Staat verstrickt (man kämpft z.B. gegen die lebensbedrohlichen Arbeitsbedingungen im Bergbau oder für die Anhebung des Mindestlohns), wendet erhebliche eigene Mittel auf, um diese Nothilfe bereitstellen zu können. Doch angesichts des sich immer weiter zuspitzenden ramas des Bürgerkrieges in Syrien und im Irak sind diese Mittel schlichtweg nicht ausreichend, um den in der Türkei Schutzsuchenden helfen zu können. Dabei sind die hilfsbereiten Gewerkschaften gerade für kurdische Flüchtlinge aus Syrien überlebenswichtig geworden – wie auch DISK in mehreren Publikationen kritisiert, sind die durchaus nicht unerheblichen Mittel des türkischen Staates für Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak für die große Gruppe der syrisch-kurdischen Flüchtlinge sehr viel schwieriger erreichbar als für andere Flüchtlingsgruppen.

Erdogan spielt mit den Flüchtlingen – und mit dem Feuer

Nicht nur die humanitäre, auch die politische Situation in den Camps ist angespannt. Die internationale Delegation der Gewerkschafter*innen berichtet über die Verbitterung, die ihnen etwa in den Camps entgegenschlug, die hauptsächlich von irakischen Jesidinnen und Jesiden bewohnt werden. Sie sehen seit der Irak-Offensive des IS im August, die vor allem einen Genozid an der jesidischen Bevölkerung zum Ziel hatte, einer düsteren Zukunft entgegen. Diejenigen, die nun in Suruç in den Camps mit Hunger, Krankheit, Verletzungen und der Kälte ihren Kampf ums Überleben führen, sind dem IS buchstäblich in letzter Minute entkommen. Die meisten von ihnen mussten durch die syrisch-kurdischen YPG/YPJ-Einheiten oder von der türkisch-kurdischen PKK gerettet werden, weil sich die mit der Regierung Erdogan eng verbündete irakisch-kurdische Regierung – also diejenige Regierung, die für den Schutz der Jesidinnen und Jesiden zuständig gewesen wäre – unfähig oder unwillig gezeigt hatte, dem IS entgegenzutreten. Mit Not entkamen sie nach einem qualvollen, viele Kilometer langen Fußmarsch durch die Wüste nach Rojava. Von 2012 bis zum Herbst 2014 hatten sich 1,2 Millionen Menschen aus Syrien und dem Irak in die drei kleinen Kantone im Norden Syriens geflüchtet, in denen die linken politischen Kräfte der dortigen kurdischen Mehrheit ein Gesellschaftsprojekt vorantreiben, das auf Basisdemokratie, Anti-Rassismus und Feminismus basiert. 1,2 Millionen geflüchtete Menschen, verteilt auf drei durch den Bürgerkrieg geteilte Gebiete; das kleinste – das Gebiet um Kobane – war bis zum Angriff des IS etwa halb so groß wie das Saarland, der größte Kanton Cizîrê dehnte sich einst höchstens auf ein Gebiet von der Fläche Schleswig-Holsteins aus und schrumpft durch den Vormarsch des IS ebenfalls langsam, aber beständig. Die Flüchtlingssituation ist in Rojava unter den Bedingungen des Bürgerkrieges und des türkisch-nordirakischen Embargos kaum zu bewältigen. Den Jesidinnen und Jesiden, die von linken kurdischen Milizen aus dem Irak nach Syrien gerettet worden waren, blieb nichts weiter übrig, als erneut aufzubrechen – diesmal in die Türkei. Dort sehen sie sich als zwar  irakische, aber aus dem kurdischen Syrien eingewanderte Flüchtlinge mit der Diskriminierung durch die türkischen Behörden konfrontiert. Erdogan hat pauschal festgelegt, dass jesidische Flüchtlinge maximal sieben Jahre in der Türkei bleiben dürfen.

Das mag sich zunächst generös anhören – aber nur, wenn man von einer sicheren Niederlage des IS und aller anderen islamistischen Eiferer im Irak ausgeht, was allerdings  alles andere als sicher ist. Tatsächlich aber machte Erdogan damit deutlich, dass es für die Jesidinnen und Jesiden aus dem Irak, die in Kontakt mit den linken kurdischen Kräften in Syrien standen, keine langfristige Perspektive in der Türkei gibt. Damit bleiben sie in der Türkei weitgehend rechtlos: Eine Arbeitserlaubnis und Ansprüche gegen den Staat wie etwa ein Schulbesuch der Kinder oder eine medizinische Grundversorgung werden ihnen nach dem Willen der AKP für die Dauer ihres Lebens in der Türkei immer verwehrt bleiben. Sie haben somit keine Perspektive, in der Türkei einem Leben als Ausgegrenzte in ständiger Gefahr der Armut zu entgehen. Und wie ihre einstige irakische Heimat nach jenen willkürlich festgelegten sieben Jahren einmal aussehen soll, steht in den Sternen. Die Unsicherheit, ob der IS und sein gesellschaftliches Umfeld bis dahin wirklich besiegt sind, ist dabei das Eine. Doch das Verhalten der irakisch-kurdischen Regierung gegenüber der jesidischen Bevölkerung im vergangenen Sommer bedeutet für die jesidischen Flüchtlinge in der Türkei vor allem eins: Dass sie auch in einem militärisch gesicherten Nordirak unter Kontrolle der regierenden KDP höchstens eine Existenz als Bürger*innen zweiter Klasse haben werden. Als Jesidin oder Jeside scheint es somit kaum einen Ausweg aus der desaströsen politischen Lage zu geben, ein Leben der Flucht und Diskriminierung leben zu müssen. Die einzige Hoffnung wäre wohl ein Überleben, Stabilisieren und Ausdehnen Rojavas im syrischen Bürgerkrieg – doch auch dies scheint hinsichtlich der politischen und militärischen Situation äußerst unrealistisch. Eine paradoxe Situation, in der eine religiöse Gemeinschaft wie die jesidische, in der patriarchale Strukturen weit verbreitet sind, ihre Hoffnung auf linke, säkulare und feministische Kräfte setzen muss. Der ITF-Delegierte Mac Urata zitiert in seinem Bericht vom Besuch im jesidischen Flüchtlingscamp in Suruç einen Familienvater: „Jesiden haben doch auch ein Recht auf ihr eigenes Leben, oder? Stimmen Sie mir zu? Ankara hat uns sieben Jahre gegeben, doch ich gehe nicht zurück in den Irak. Die kurdische Regierung dort hat uns betrogen. Wie sollen wir mit solchen Vampiren und Monstern leben?“

Urata berichtet auch darüber, dass er die Stimmung im Flüchtlingscamp Arin Mirkan, ebenfalls im Landkreis Suruç, als gefasster und optimistischer erlebte als in Fidanlik, dem jesidischen Flüchtlingscamp. In Arin Mirkan leben etwa 3.000 Flüchtlinge aus Kobane, die meisten von ihnen sind Kinder mit ihren Eltern und Großeltern. Hier zeigen sich die überwiegend säkularen Kurdinnen und Kurden kämpferisch und siegesgewiss. Kobane geht ihnen nicht nur als Name ihrer Heimat, sondern auch als Kampfformel über die Lippen – die mediale Aufmerksamkeit hat die Stadt längst zu einem Symbol sowohl für den IS wie auch die kurdischen Kräfte werden lassen. Urata wundert sich darüber, wie der Verlust und die weitgehende Zerstörung der eigenen Stadt derart selbstbewusst aufgenommen werden. Die syrischen kurdischen Flüchtlinge scheinen – zumindest in diesem Fall – in der überwiegend kurdischen türkischen Grenzregion weniger Zukunftssorgen als die ihr Schicksal objektiv teilenden jesidischen Flüchtlinge aus dem Irak zu haben. Die Bewegung, die sich in Rojava durchsetzen konnte, ist auch in der Türkei stark, und auch viele nicht kurdische Türkinnen und Türken können sich für sie begeistern oder zumindest Solidarität entwickeln. Syrische Kurdinnen und Kurden werden daher zwar politisch von Ankara diskriminiert, doch ausgegrenzt fühlen sie sich nicht. Gerade dies dürfte Erdogan ein erhebliches politisches Ärgernis sein. Die türkischen Gewerkschaften, die sich für die kurdischen Flüchtlinge einsetzen, dürfen sich wohl auf einige Repressionen gefasst machen. Doch die sind sie bereits seit Jahrzehnten gewohnt.

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