Je (ne) suis (pas) Charlie!

Vorwort der Hintergrund-Redaktion:

Der Angriff auf „Charlie“ war nach Meinung der Hintergrund-Redaktion nicht einfach „nur“ ein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Spätestens mit der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt, in deren Verlauf vier jüdische Geiseln1 ermordet wurden, bekommt der Angriff eine klar antisemitische Ausrichtung. Verschiedene Untersuchungen der letzten Jahre belegen eine Zunahme des Antisemitismus in Europa. Mit Blick auf Frankreich lässt sich folgendes festhalten:Laut dem Schutzdienst für die jüdische Gemeinschaft richteten sich 2014 40 Prozent aller rassistischen Angriffe gegen JüdInnen, die gerade ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Außerdem hat sich die Anzahl der antisemitischen Angriffe nahezu verdoppelt (2014: 854 | 2013: 423). Gleichzeitig gibt es in Frankreich ein hohes Bewusstsein dafür, dass Antisemitismus ein großes Problem darstellt (laut einer EU-Studie von 2013 sahen dies immerhin 88 Prozent der Bevölkerung so). Als ob das nicht schlimm genug wäre, hat auch der antiislamische Rassismus im Zuge der Ereignisse vielleicht neue Formen, aber auf jeden Fall eine neue, breite Öffentlichkeit bekommen, manifestierte sich dieser doch in den Tagen nach dem Angriff auf Charlie und den jüdischen Supermarkt in Angriffen auf Moscheen und islamische Gebetsräume. Die Gefahr (nicht nur in Frankreich, sondern auch und gerade in Deutschland) besteht nun darin, unter dem Deckmantel des Anti-Antisemitismus einen antiislamischen Rassismus noch gesellschaftsfähiger zu machen als er ohnehin schon ist.

Attentat und Geiselnahme

Am Mittwochvormittag, den 7. Januar 2015, stürmten zwei bewaffnete Männer – mutmaßliche Islamisten – die Redaktionsräume des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo und richteten ein Blutbad bei dessen Redaktionskonferenz an. Unter den zwölf Toten befinden sich vier namhafte Zeichner sowie zwei Polizisten, die zum Personenschutz bzw. als Fahrradstreife vor Ort waren.

Die Täter flüchteten mit einem Auto, das von einem dritten Mann gefahren wurde, und konnten sich zunächst verstecken. Später wurde dann der Fluchtwagen gefunden und darin ein Personalausweis, der angeblich die Polizei auf die richtige Spur brachte. Zwei Tage später waren dann alle drei Männer tot, zwei starben bei einem Feuergefecht mit der Polizei in einem Pariser Vorort und der dritte bei der Beendigung einer gewaltsamen Geiselnahme in einem jüdischen Geschäft.Drohungen gegen das Satiremagazin gab es schon lange und häufig – ebenso einen Brandschlag 2011 auf das Redaktionsgebäude. Die Drohungen nach dem Abdruck der umstrittenen Mohammed-Karikaturen aus der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ waren u.a. der Grund, warum einer der Zeichner einen Personenschützer hatte und das Redaktionsgebäude von der Gendarmerie überwacht wurde.Dieser militärisch gut geplante und durchgeführte Anschlag schockte nicht nur die französische Öffentlichkeit. Der Anschlag wurde schnell politisch als ein Angriff sowohl auf die Presse- und Meinungsfreiheit als auch auf den „freien Westen” an sich ausgelegt. Manch ein Pressevertreter zog Parallelen zum 11. September, was bezüglich der Opferzahlen und der Hintergründe nicht unbedingt kohärent ist.

Schock und Solidarität

Als Reaktion hierauf reagierte die „Grande Nation” mit einer „Je suis Charlie!”-Kampagne. Auf Werbeflächen, öffentlichen Anzeigetafeln auf Autobahnen und den Jacken des kleinen Mannes auf der Straße prangte der Schriftzug „Je suis Charlie!”. Es entstand eine regelrechte kollektive Identität, deren Bezugspunkt die Solidarität mit jenem Satiremagazin war. Und das über politische Grenzen hinaus. Anarch@s und FN-Anhänger, UMP-Wähler und sozialistische PolitikerInnen marschierten Arm in Arm für die Pressefreiheit – angeführt von der französischen und der internationalen Politprominenz aus dem europäischen Ausland – selbst solche, die es in ihren Ländern sonst nicht so genau mit der Pressefreiheit nehmen. In seltener Einheit marschierten die beiden großen politischen Parteien UMP und PS durch Paris, während die ausgeladene Marine Le Pen (FN) ihre Anhänger in die Banlieue zu einer Kundgebung eingeladen hatte. Ein blanker Zynismus, dass die FN, gegen die „Charlie Hebdo“ 1995 eine Petition gestartet hatte, nun das Attentat für ihre nationalistische und islamophobe Propaganda ausschlachtet.

So wurde Charlie Hebdo, ein aus anarchistischer Tradition stammendes, linkes Satireblatt, zum zweiten Mal ein Opfer. Die einen ermordeten die Macher, die anderen instrumentalisierten die Getöteten für ihre politischen Ziele. Tote können sich ja leider nicht wehren…Um das Trauma zu verstehen, welches der Anschlag in der französischen Öffentlichkeit ausgelöst hat, reicht es nicht aus, lediglich den Anschlag zu betrachten. Das Satiremagazin Charlie Hebdo ist eine Institution in Frankreich. Als Nachfolgeblatt der zeitweilig verbotenen anarchistischen Satirezeitschrift Hara-Kiri verteidigt Charlie wie keine andere Institution in Frankreich das Recht auf Blasphemie, das sich aus der bis zur französischen Revolution zurückreichenden laizistischen Tradition entwickelt hat. Auf dieses Recht ist man in Frankreich sehr stolz und die Wochenzeitung Marianne diskutierte, ob nach dem Attentat auf Charlie Hebdo die Laizität Frankreichs auf dem Spiel steht. Es ist ein Blatt, das auch in gewisser Hinsicht die öffentliche Meinung polarisiert(e) und damit in der französischen Medienlandschaft eine besondere Stellung einnahm. Sowohl von katholischer als auch von muslimischer Seite gab es mehrfach (erfolglose) Klagen gegen das Satiremagazin. Zum anderen gehört die Lektüre von Charlie Hebdo für viele Franzosen zum Erwachsenwerden dazu. Es ist m.E. vergleichbar mit der Bravo-Sozialisation deutscher Jugendlicher.

Stilblüten und kritische Solidarität

Nicht nur die Medien in Frankreich – von der Rugby-Wochenzeitung bis zur letzten Provinzpostille – waren alle Medien mit Charlie solidarisch und druckten Cartoons nach. Und auch das Ausland machte mit – allerdings mit manch einer bigotten Geste. So wurden in manchen amerikanischen Zeitschriften die Cartoons zwar nachgedruckt, aber verpixelt, d.h. dass der Kampf für Presse- und Meinungsfreiheit einer gewissen Selbstzensur untergeordnet wurde.Dieser Akt der Zensur spiegelt ein Problem wider, was viele mit Charlie Hebdo haben. Charlie ist ein anarchisches Blatt, d.h. ein Blatt, das sich nicht um politische Korrektheit schert und im besten Sinne das Postulat Kurt Tucholskys, „Satire darf alles!”, mit Leben erfüllt. Charlie teilt aus – gegen Christen, Juden und Muslime, gegen Homos und Heteros. Niemand ist verschont geblieben.

In der linksradikalen Szene wurde in den letzten Jahren vehement Kritik an der Zeitschrift geübt. Cartoons wurden häufig als antisemitisch, rassistisch, frauenfeindlich und homophob gebrandmarkt. Ebenso war ein häufig vorgebrachter Vorwurf, dass die AutorInnen Sachverhalte zu stark vereinfachen würden.Aus dieser Haltung heraus wurde die Mainstream-Kampagne „Je suis Charlie!” von vielen Linken abgelehnt und zu einer distanzierteren Solidarität aufgerufen. Diese Einstellung findet sich auch in der recht nüchtern ausgefallenen Erklärung der Fédération Anarchiste: „Dieses Attentat sollte uns ins Bewusstsein rufen, dass religiös motivierte Aufklärungsfeindlichkeit als Politik mörderisch ist. Wir verurteilen die Mörder, sind aber gleichzeitig auf der Hut angesichts der Reaktionen von Rechtsextremen oder polizeilichen Maßnahmen seitens des Staates.” In der von ihr publizierten Wochenzeitung Le Monde Libertaire war das Thema zwar präsent, aber nicht der Auftaktartikel. Der Schwerpunkt lag auf dem Recht auf Abtreibung und der Selbstbestimmung über den weiblichen Körper. Die Titelseite wurde jedoch von einer dazu passenden Karikatur von dem Charlie Hebdo-Zeichner Cabu geziert. In einem längeren Artikel wurde vorrangig das Thema „Hypocrisie” im Zusammenhang mit dem Attentat aufgegriffen.

Viele offene Fragen

Das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo lässt viele Fragen offen. Beispielsweise waren die drei Männer der Polizei schon längere Zeit bekannt und sie standen unter Beobachtung. Entweder waren die drei also sehr geschickt, oder man hat sie gewähren lassen, vielleicht sogar in der Zielauswahl beeinflusst? Islamophobe Strukturen und Politiker gibt es in Frankreich zur Genüge. Die Deutschen haben mit der NSU-Geschichte auch schon ein adäquates Beispiel für solche Verstrickungen geliefert.

Die Tat und die Flucht waren sehr gut vorbereitet. Doch welcher Terrorist verliert seinen Ausweis im Fluchtauto? Und wozu einen Polizisten niederschießen und anschließend auf offener Straße exekutieren? Sollte die Tat besonders spektakulär und brutal wirken? Falls ein großes Medienecho das Ziel war, so ist das auf jeden Fall gelungen. Doch in diesem Artikel wollen wir keinen Kriminalroman schreiben und letztlich spielen der genaue Tathergang und die Frage, ob es sich um drei Fanatiker oder um Auftragskiller handelt, nur eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist es, zu analysieren, welche Maßnahmen damit legitimiert werden und welche Position wir beziehen sollen. Ganz in dem Sinne: „Remember the dead – fight for the living!“

Die Rolle von Medien und Politik

Noch am Mittwoch, den 7. Januar, wurde in sämtlichen Medien fast ausschließlich und in aller Ausführlichkeit über das Attentat berichtet und zahlreiche namhafte Politiker beeilten sich mit ihrer Solidaritätsbekundung. Plötzlich waren alle „Charlie“ und glühende Verfechter der Meinungsfreiheit als demokratisches Recht, besonders diejenigen, die sich vorher nie für diese Zeitung interessiert haben oder von ihr aufs Korn genommen wurden Es wurde immer wieder von „einem Angriff auf die Republik und die Demokratie“ gesprochen. Es gelte entschlossen und vereint einem undemokratischen Feind entgegenzutreten und republikanische Werte zu verteidigen. Was diese Werte genau sein sollten wurde nicht weiter erläutert.

Die Demonstration in Paris am Sonntag, den 11. Januar, war jedenfalls mit je nach Angabe 700.000 bis zwei Millionen Menschen ein riesiger Mobilisierungserfolg. Öffentliche Verkehrsmittel waren an diesem Tag kostenlos. In der ersten Reihe liefen die „größten Verteidiger“ der Meinungsfreiheit und republikanischer Werte: Merkel, Hollande, Samaras, Erdogan, Poroschenko, Valls usw. demonstrierten Einigkeit und heuchelten um die Wette. Und auch Sarkozy konnte es sich nicht nehmen lassen, sich in die erste Reihe zu drängen. Stellvertretend für die Heldentaten dieser „Demokraten“ steht das Beispiel des türkischen Präsidenten Erdogan: In der Woche nach dem Attentat ließ er Räumlichkeiten einer Zeitung durchsuchen und Redakteure verhaften, die die Sonderausgabe von Charlie Hebdo übersetzen wollten. Wie seine Regierung mit Meinungsfreiheit umgeht hat sie zum Beispiel mit mehreren Toten im und um den Gezi-Park deutlich gezeigt. Auch der andauernde Krieg in den kurdischen Gebieten ist nicht gerade ein Beispiel von Akzeptanz der Menschenrechte.Aber über solche Details wurde in den Mainstreammedien nicht berichtet. Auch über TAFTA oder darüber, dass sämtliche französischen Atomkraftwerke inzwischen altersschwach sind, verlieren die Medien kein Wort. Dafür haben wir nun eine nationale Einheit. Was scheren uns noch Lohnkämpfe oder das Renteneintrittsalter? Die Republik wurde angegriffen! Der Inhalt des offiziellen Diskurses und das verwendete Vokabular ähnelt stark dem unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg eingesetzten. Unterschwellig wurde jedenfalls klar: Bei aller Differenz brauchen wir jetzt einen starken Staatsapparat und ein effektives Überwachungssystem. Eine Schwarz-Weiß-Landschaft wurde geschaffen: Entweder wir sind für die „demokratische Republik“, oder für die „abscheulichen Terroristen“. Die Masche ist nicht neu, das Erzeugen eines positiven Zusammengehörigkeitsgefühls kombiniert mit der Abscheu gegenüber einem imaginären Feind. „Wir lassen uns nicht spalten“ heißt die offizielle Parole, dabei geschieht genau das. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, so einfach ist das. Der Hass auf den Islam wurde durch die Ereignisse enorm angeheizt. Noch in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar wurden eine Moschee und ein Gebetsraum mit Handfeuerwaffen beschossen. Innerhalb der folgenden zwei Wochen kam es zu mindestens dreiunddreißig Attacken auf islamische Einrichtungen und jede Menge Angriffe gegen Personen.

Sicherheitsapparat

Das Klima der Angst und der Einheit wurde geschickt ausgenutzt, um verschiedene Sicherheitsbestimmungen durchzusetzen und neue Mittel für Geheimdienste bereitzustellen. Unter dem Vorwand einer Ausnahmesituation werden Ausnahmeregeln getroffen, die dann bestehen bleiben und zur Normalität werden.

In Frankreich gibt es seit 1978 den „Plan Vigipirate“, eine Ausnahmeregelung, die seitdem regelmäßig verschärft wurde und nun zum „Plan Vigipirate Attentat“ weiter verschärft wird. Ein Ende dieser Verschärfungen ist nicht in Sicht. Doch trotz Plan Vigipirate wurde das Attentat auf Charlie Hebdo nicht verhindert.In Paris kommt der Metroverkehr ständig wegen „verdächtiger Pakete“ zum Erliegen. (Mittlerweile gibt es regelmäßige, mehrsprachige Lautsprecheransagen, die die Fahrgäste bitten, darauf zu achten, dass sie ihr gesamtes Gepäck beim Einsteigen in die Metro dabei haben.) Ein offizielles Informationsblatt für Eltern informiert über potentielle Hinweise auf, die für eine Hinwendung zum Djihadismus hinweisen können. Polizei und Militärpatrouillen sind in überdurchschnittlichem Ausmaß unterwegs. Allein in Paris werden 5.000 zusätzliche Polizisten eingesetzt. Zum Versenden von Post über 250 Gramm wird ein gültiger Personalausweis benötigt und eine Inhaltsangabe der Sendung kann abgefragt werden.Öffentliche Einrichtungen werden seit dem 8. Januar stärker überwacht als sonst. Universitäten und Wissenschaftseinrichtungen können nur noch mit entsprechendem Ausweis betreten werden – selbst die von Michel Foucault mitgegründete Alternativuniversität Paris 8-Saint-Denis gleicht einem Überwachungsstaat. Damit ist der öffentliche Charakter solcher Einrichtungen verloren gegangen. Selbst in Kindergärten wird aufgrund der Terrorwarnung vereinzelt Eltern der Zugang zu den Räumen verwehrt.Seitens des Erziehungsministeriums wurde auch die „Vermittlung der republikanischen Werte” im Schulunterricht verstärkt eingefordert. Grund hierfür dürfte u.a. sein, dass sich viele muslimische Schüler geweigert hatten, an der offiziell verordneten Gedenkminute für die Opfer teilzunehmen. Im Gespräch war auch die Denunziation solcher Schüler als potentielle Sympathisanten und gefährdete Gruppe. Eine Hysterie, die an die Reaktionen an manchen deutschen Universitäten nach dem 11. September erinnert, wo in vorauseilendem Gehorsam die Namen von Studierenden aus muslimischen Ländern an die Sicherheitsbehörden weitergegeben wurden. Am 21. Januar wurden zusätzliche 425 Millionen Euro für 2.680 neue Arbeitsplätze im „Antiterrorkampf“ bereitgestellt, 1.400 Stellen davon sind für den Geheimdienst vorgesehen. Doch lassen wir uns nicht von den Begriffen in die Irre führen. Bei den „Antiterrorkämpfern“ handelt es sich um Schnüffler und gut bezahlte Schläger, die als „Stützen des Systems“ jeder revolutionären Bewegung entgegenwirken.Letztlich steht uns nun ein „patriot act“ à la française ins Haus. Internetüberwachung ist in Frankreich ja schon seit geraumer Zeit gang und gäbe, soll nun aber noch weiter verschärft werden. Das alles ist nicht neu, sondern setzt ein schon vor Jahren ausgearbeitetes Programm um Der Anschlag auf Charlie Hebdo beschleunigt den Ausbau des Überwachungsstaates. Das Ziel ist ganz klar: Die totale Kontrolle der Bevölkerung und Zerschlagung jeglicher Widerstandsstrukturen im Keim. Für uns als AnarchistInnen ist die Situation damit nicht gerade einfacher geworden. Wir wollen kein Teil einer nationalen Einheit sein wollen und auch keine kapitalistische Vertreterrepublik. Wir sind gegen jeden religiösen Zwang und gegen jede Barbarei. Wir sind für eine Welt der Solidarität und des gegenseitigen Respekts. Wir sind für Frieden, Freude und Crêpes und setzen uns dafür ein!

[1] Zusammen mit der Charlie-Mitarbeiterin Elsa Caya waren fünf von sechszehn Ermordeten JüdInnen.

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