Radikale Globetrotter

1910 war die „anarchistischste“ Stadt der Welt nicht etwa Barcelona, sondern Buenos Aires, dicht gefolgt von Havanna. In vielen karibischen und lateinamerikanischen Regionen erlangten große syndikalistische Gewerkschaften eine ähnliche Bedeutung wie ihre europäische Schwester, die CNT. Verleihen wir dem globalen Süden in der Geschichte der anarchistischen Bewegung ein anderes Gewicht, ist Spanien keine Ausnahme mehr, so der Politikwissenschaftler Carl Levy. Momentan werden zahlreiche blinde Flecken auf der geographischen Landkarte des Anarchismus erschlossen und unerwartete Verbindungen aufgedeckt. Denn in Lateinamerika und der Karibik, aber auch in Südostasien und Teilen Afrikas, hatten Anarchismus und Syndikalismus um 1900 eine Massenbasis, ganz im Gegenteil zur Sozialistischen Internationale, die sich einen solchen Status in den kolonisierten und ehemals kolonisierten Gebieten erst noch erarbeiten musste. Lucien van der Walt und Michael Schmidt haben mit ihrem Konzept der broad anarchist tradition auf diese Breitenwirkung des Anarchismus aufmerksam gemacht. Bis heute wird die Geschichte der Arbeiterbewegung, ihrer Ideen, Praxis und Organisationsformen aus einer eurozentrischen Perspektive erzählt. Im Mittelpunkt stehen meist weiße, männliche Handwerker und Industriearbeiter, nur selten werden die Grenzen des Nationalstaats hinterfragt. Doch die AkteurInnen waren weitaus internationalistischer und mobiler als oftmals angenommen.

Grenzüberschreitend solidarisch: Enrique Flores Magón mit seiner Familie und mexikanischen IWW-Mitgliedern 1923 in Ciudad Júarez.

Einige biographische Beispiele aus der Karibik: Der kolumbianische Anarchist und Herausgeber der Zeitschrift Ravachol, Juan Francisco Moncaleano, wurde 1911 des Landes verwiesen. Aus Sicht der Behörden hatte es Moncaleano, der hauptberuflich Lehrer war, mit seinen provokanten regierungskritischen und antiklerikalen Artikeln zu weit getrieben. Gemeinsam mit seiner Frau Blanca schiffte er sich nach Kuba ein, in Havanna kamen sie bei GenossInnen unter. Beide unterrichteten dort in konventionellen Schulen, verließen die Insel allerdings ein Jahr später wieder – angezogen von der Mexikanischen Revolution. In Yucatán halfen sie, eine Moderne Schule nach dem Vorbild Francisco Ferrers aufzubauen, dann verschlug es Moncaleano nach Mexiko-Stadt, wo er an der Gründung der ersten syndikalistischen Gewerkschaft Mexikos beteiligt war, der Casa del Obrero Mundial. In den USA traf sich das Paar 1913 wieder und unterstützte den Aufbau einer weiteren Schule in Los Angeles, die in einem neuen Gewerkschaftshaus der Casa untergebracht war.Fast zur gleichen Zeit unternahm die aus Puerto Rico stammende Anarchistin und Feministin Luisa Capetillo Propagandareisen nach Kuba und in die Dominikanische Republik, wo sie auf öffentlichen Versammlungen die ArbeiterInnen aufrief, sich in Gewerkschaften zu organisieren. In Puerto Rico hatte die alleinerziehende Mutter selbst Erfahrungen beim Streik der TextilarbeiterInnen gesammelt. Später lebte sie in Tampa (Florida) und New York. Der katalanische Anarchist Pedro Esteve hingegen war schon Anfang der 1890er Jahre in die Vereinigten Staaten gekommen. Zuvor hatte er im Nordosten Italiens an der Herausgabe anarchistischer Zeitungen mitgewirkt, nun lebte er in Tampa und Patterson (New Jersey). Esteves war für die italienischsprachigen Seiten der anarchistischen Zeitschrift Regeneración verantwortlich, die von den Brüdern Flores Magón erst in Mexiko und dann in den USA herausgegeben wurde.

Proletarische KosmopolitInnen

Die Moncaleanos, Luisa Capetillo, Pedro Esteve sowie Ricardo und Enrique Flores Magón sind die etwas prominenteren Gesichter eines mobilen Proletariats, das seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre hinein die Karibik und ihre kontinentalen Anrainer in Süd-, Mittel- und Nordamerika aus Sicht der Regierenden unsicher machte. In dieser Zeit überquerten hunderttausende Menschen den Atlantik und immer wieder zahlreiche Staatsgrenzen auf der Suche nach Arbeit oder einem besseren Leben, auf der Flucht vor Repression, getrieben von revolutionärer Abenteuerlust oder mit der Absicht, Plantagen und Baustellen gewerkschaftlich zu organisieren. Das Propagandamaterial hatten sie im Gepäck. Durch ihre persönlichen Kontakte und die Verbreitung ihrer Zeitschriften knüpften sie Netzwerke jenseits des Nationalstaats.

Der technische Fortschritt – Dampfschiffe, Eisenbahnen, Telegraphenkabel – trug dazu bei, dass Ozeane und nationale wie koloniale Grenzen einfacher denn je passiert werden konnten. Druckerzeugnisse waren leichter herzustellen und konnten massenhaft verbreitet werden. Zwischen 1898 und 1924 erschienen in Kuba, Puerto Rico und Panama allein 42 anarchistische Zeitungen. Den größten Verbreitungsgrad hatten die in Havanna herausgegebene Wochenzeitung ¡Tierra! und die bereits erwähnte Regeneración. Beide Zeitungen dienten in Regionen, in denen es keine eigene Presse gab, als Überbringerinnen neuer Ideen und versorgten die dortigen GenossInnen mit Informationen aus der Bewegung, die wiederum eigene Artikel über die Lage vor Ort einschickten.Verbreitet wurden Zeitungen und Propagandamaterial von den Grenzüberschreitern schlechthin: Matrosen und Eisenbahnern, unter ihnen viele Wobblies. So entwickelten sich Hafenstädte wie Veracruz und Tampa zu wichtigen Drehscheiben in den Netzwerken, an denen sich besonders viele radikale GlobetrotterInnen trafen. Das tropische Netzwerk verband nicht nur die ArbeiterInnen der Großen und Kleinen Antillen miteinander, es reichte bis auf den Kontinent. So waren urbane Zentren wie Mexiko-Stadt, Key West und New York wichtige Knotenpunkte. Aber die ProtagonistInnen druckten nicht nur Zeitungen: Sie organisierten sich in Gewerkschaften, führten öffentliche Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen durch, streikten in den Tabakfabriken, auf den Docks sowie den Zuckerrohr- und Bananenplantagen, organisierten Rundreisen und Konferenzen, eröffneten Schulen und feierten den 1. Mai. Unter der Berücksichtigung regionaler Besonderheiten und Unterschiede entwickelten sie die anarchistische Idee weiter und teilten ihre Erfahrungen mit den GenossInnen weltweit. In den ersten Jahren der Revolution wurde Mexiko ein besonderes Experimentierfeld für Radikale aus allen Teilen der Karibik und der Welt. Als die anarchistische Partido Liberal Mexicano um die Magón-Brüder 1911 in Niederkalifornien ein Kommune-Projekt initiierten, waren viele der KämpferInnen, die das kollektive Land schützten, IWW-Mitglieder oder kamen aus Europa.Seit ein paar Jahren sind diese transnationalen Netzwerke verstärkt ins Interesse einiger HistorikerInnen gerückt, die sich auf die Geschichte Lateinamerikas und der Karibik spezialisiert haben. Insbesondere die sogenannte transnationale und postkoloniale Wende in den Geistes- und Sozialwissenschaften haben dazu beigetragen. Anarchistischen und syndikalistischen Bewegungen im globalen Süden werden zunehmend mehr Studien und Publikationen gewidmet. In einem noch ausstehenden Band wollen van der Walt und Schmidt die Weltgeschichte des Anarchismus und Syndikalismus aufarbeiten – ohne eine Hälfte des Erdballs auszusparen. Dem Historiker Kirwin Shaffer ist es zu verdanken, dass die Karibik längst kein unbekanntes Terrain mehr ist.

Schmelztiegel Karibik

Seit der Eroberung und Kolonisierung durch die Spanier und die späteren Vorstöße der französischen, britischen und holländischen Kolonialmächte war die Karibik ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Sprachen. Die Region wurde durch den transatlantischen Sklavenhandel und ausgedehnte Zuckerrohrplantagen bestimmt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts leitete die Sklavenrevolution der „Black Jacobins“ (C.L.R. James) von Saint Domingue die Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika ein. 90 Jahre später verlor Spanien nach dreijährigem Unabhängigkeitskrieg mit Kuba seine letzte Kolonie in Amerika. Am Krieg beteiligten sich auch viele kubanische AnarchistInnen, die den Kampf weniger als nationale Befreiung, sondern als anti-kolonialen Kampf für Freiheit sahen (vgl. van der Walt in DA 209). Außerdem wurde die Karibik stark durch die Einwanderung spanischer und italienischer ArbeiterInnen und die zunehmende hegemoniale Ausdehnung der USA geprägt.

Im Zuge der zweiten industriellen Revolution und der Dollar Diplomacy der USA gewannen große transnationale Unternehmen an Einfluss. Ganze Gebiete wurden durch Konzerne wie die United Fruit Company erschlossen, die zum Beispiel in Costa Rica Eisenbahnstrecken und Häfen zum Bananen-Transport bauen ließ. Der Ausbreitung des Kapitals folgten die ArbeiterInnen. Zwar waren die Unternehmen auf ihre Arbeitskraft angewiesen, doch fürchteten sie gleichzeitig nichts mehr, als AgitatorInnen auf den Plantagen und in den Fabriken. Ab 1903 wurde die Panamakanal-Zone zu einem weiteren wichtigen Knotenpunkt im karibischen Netzwerk. Der Bau des Kanals, den die USA durch die Unabhängigkeit Panamas von Kolumbien forciert hatte, zog Arbeiter aus der gesamten Karibik und darüber hinaus an. Prompt verboten die US-amerikanische und die panamaische Regierung Anarchisten die Einreise in die Kanalzone und später ins ganze Land – dennoch schlüpften zahlreiche von ihnen durch die Kontrollen. Sie fanden sich mit miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen konfrontiert und mussten feststellen, dass Gewerkschaften in dem jungen Land nicht existierten. Von der American Federation of Labor erhielten sie nur wenig Unterstützung, außerdem nahm sie nur weiße, ausgebildete Arbeiter auf. So begannen die Anarchisten bis zur Fertigstellung des Kanals 1914 ihre eigene Kampagne: Sie agitierten ihre Kollegen – auch mit Hilfe der kubanischen ¡Tierra! – führten zahlreiche Streiks durch, schlossen sich in einer Föderation zusammen und warnten mithilfe der Zeitungen die Genossen in Spanien vor den schlechten Arbeitsbedingungen – sie sollten sich keine Illusionen machen und zu Hause bleiben.Um die Militanten loszuwerden, ersetzte die Kanalverwaltung sie durch billigere Arbeiter von den British West Indies. Ähnliche Maßnahmen wandte man auch auf den Zuckerrohrplantagen Kubas an. Manchmal ging diese Strategie auf. Die Armut auf den West Indies war groß, die ArbeiterInnen akzeptierten geringere Löhne und stießen bei ihren KollegInnen oft auf rassistische Vorurteile. Auch den AnarchistInnen gelang es nicht immer, diese zu überwinden und sich gemeinsam zu organisieren. Nachdem der Kanal fertiggestellt war, zogen die meisten Arbeiter weiter, viele importierten ihre Organisationserfahrungen an ihre neuen Arbeitsplätze. Diejenigen, die in Panama blieben, machten zehn Jahre später mit einem Mietenstreik auf sich aufmerksam, den die Regierung mithilfe der USA brutal niederschlug.Am Ende der 20er Jahre hatte die anarchistische Bewegung in der Karibik ihren Höhepunkt überschritten. Einerseits sahen sich die AkteurInnen mit großen Repressionswellen konfrontiert. Die Red Scare griff nicht nur in den Vereinigten Staaten um sich, sie breitete sich auch in der Karibik aus, wo nach wie vor zahlreiche autoritäre Regimes durch die USA unterstützt wurden oder die Marines stationiert waren. AnarchistInnen wurden fast überall als vermeintlich kriminelle AusländerInnen ausgewiesen oder deportiert. Andererseits hatte die Russische Revolution und der Sieg der Sowjets eine große Anziehungskraft entwickelt. Die anarchistischen Organisationen konkurrierten zunehmend mit kommunistischen Parteien, die ganz andere Strategien vertraten. Inwiefern auch organisatorische Schwächen zum Niedergang der Netzwerke beitrugen, ist bislang wenig beleuchtet.Sicher hingegen ist, dass die „Tropical Libertarians“ (Shaffer) unsere heutige Sicht auf den Anarchismus revolutionieren. Denn entgegen geläufiger Erwartungen, waren sie zumindest zeitweise ungewöhnlich gut organisiert und global vernetzt – proletarische KosmopolitInnen im wahrsten Sinne des Wortes.

Eine Auswahl der wissenschaftlichen Literatur zum Thema:

Carr, Barry: „Across Seas and Borders“: Charting the Webs of Radical Internationalism in the Circum-Caribbean.
In: Luis Roniger u.a. (Hg.): Exile and the Politics of Exclusion in the Americas. Brighton u.a. 2012.
 S. 217-240.

Hirsch, Steven & Lucien van der Walt (Hg.): Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World, 1870-1940. The Praxis of National Liberation, Internationalism and Social Revolution. Leiden/Boston 2010.


Levy, Carl: Social Histories of Anarchism. 
In: Journal for the Study of Radicalism, Bd. 4 (Nr. 2) 2010. S. 1-44.

Rosenthal, Anton: Radical Border Crossers. The Industrial Workers of the World and their Press in Latin America. 
In: EIAL, Bd. 22 (Nr. 2) 2011.
S. 39-70.

Shaffer, Kirwin R.: Contesting Internationalists. Transnational Anarchism, Anti-Imperialism and US Expansion in the Caribbean, 1890s-1920s. 
In: EIAL, Bd. 22 (Nr. 2) 2011.
S. 11-38.

Van der Walt, Lucien & Michael Schmidt: Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus. Hamburg 2013.

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